Wreschner, Arthur: Fr. Hitschmann: Der Blinde und die Kunst. Vierteljahresschr. f. wissenschaftl. Philos., Bd. XVII, 3. S. 312–320, 1893. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. VII, S. 415-417. Hamburg und Leipzig, 1894.

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Litteraturbericht: "Der Blinde und die Kunst."

Fr. Hitschmann. Der Blinde und die Kunst. Vierteijahrsschr . f. wissenschaftl. Philos. Bd. XVII, 3. S. 312-320. (1893).

Neben fremden teilt H. vor allem seine eigenen Erfahrungen über den Einfluß der Kunst auf das Innenleben des Blinden mit . Derartige Selbstbeobachtungen sind um so schätzenswerter, je seltener sie sich bei anormalen Menschen finden und je ergiebigere Fundgruben für die Psychologie sie bilden.

H. hält den Einfluß der Kunst auf den Lichtlosen für bedeutender als auf den Sehenden, da einerseits bei jenem das Innenleben an und für sich erregter, andererseits das Interesse nicht auf äußere Eindrücke abgelenkt ist.

Die bildenden Künste bieten zu wenig Material, die musikalischen Empfindungen nichts Abnormes. Daher beschränkt sich H. auf die Poesie. Den Genuß dieser hält er für uneingeschränkt, sobald es sich lediglich um die Darstellung des Psychischen handelt, w ie namentlich in der Lyrik. Bei der Schilderung der Außenwelt wie in Epen und Romanen , wo die Charaktere aus der „Umgebung“ sich entwickeln, kommt der Blinde nicht zum vollen Genuß. Er ist hier aufSurrogatvorstellungen angewiesen . Allerdings sollen diese oft eine merkwürdige Vollständigkeit erlangen, was H . durch das Gedicht eines Blinden zu beweisen sucht, welches bei der Schilderung der „Maiensonne“ eine Reihe von Farbenbildern enthält. Hierbei hat H. leider verfehlt, das Alter und den Bildungsgrad des Dichters vor seiner Erblindung anzugeben. Überhaupt scheint mir die einmal vorhandene Sehfähigkeit viel zu wenig berücksichtigt zu sein, wenn auch die Erblindung bereits vor 20 Jahren eintrat. Ob auch ein Blindgeborener von dem „Funkeln und Blitzen der Diamantspitzen“, von „der Smaragde bläulich Grün auf dem weißen Grund“ sprechen wird, muß erst erwiesen werden. Auch sonst unterschätzt H. den Einfluß der Gesichtseindrücke selbst bei Schilderungen re in psychischer Vorgänge. Wieviele Stimmungen, Leidenschaften etc. entstehen durch Gesichtseindrücke und werden dann durch deren Schilderung wachgerufen! Eine so strenge Scheidung zwischen der Darstellung des Milieu und der inneren Zustände entspricht nicht den Thatsachen. –

Unter den Romanen nehmen nur die „Bildungsromane“, wie Wilhelm Meister, eine Sonderstellung ein. Warum der Genuß anderer Romane so gering sein soll, ist nicht ersichtlich. Denn die Chara ktere gehen doch nicht aus den toten Gegenständen der äußeren Umgebung hervor, sondern, wie H . wohl selbst durch die Worte „au s dem Charakter der Umgebung“ andeutet, aus den umgebenden sozialen, familiären und anderen psychologischen Verhältnissen. Warum soll für diese der Blinde weniger Verständnis haben.

Ganz besonderes Interesse nimmt der Blinde an Dialogen, Novellen und vor allem an Dramen, sobald deren Wert und Wirkung nicht in der Darstellung liegt (Theaterdramen). Daher hält H. den Blinden für den geeignetsten Beurteiler des ästhetischen Wertes eines Dramas, namentlich was die sprachliche Vollkommenheit und den Rhythmus an la ngt. Hierfür soll der Blinde einen so ausgeprägten Sinn haben, daß er in der Poesie jeden metrischen Fehler, in der Prosa jeden unwillkürlich eingestreuten Vers mit größter Leichtigkeit und ohne große Aufmerksamkeit bemerkt. Mit Recht führt H. diese interessante Thatsache auf die einseitige, daher auch um so vollkommenere Ausbildung des Gehörs zurück! Dagegen wird man der Folgerung, daß der Blinde der kompetente Beurteiler eines Kunstwerks ist, nicht beitreten können. H. unterschätzt wiederum den ästhetischen Wert der Gesichtsempfindung. Das Spiel eines Dramas ist an und für sich von hoher künstlerischer Bedeutung.

– Recht bemerkenswert ist noch die Beobachtung des Verf., daß die Nachahmung von Geräuschen, z.B. der künstlich erzeugte Donner, störend und zerstreuend auf den Blinden wirkt. Sollte diese Thatsache nicht reinsubjektiver Natur sein, so ließe sie sich kaum durch den Satzerklären, daß solche Gehörseindrücke nur die Illusion verstärken, aber nicht hervorbringen können. Warum dieses? Vielmehr scheint im Gegenteil das Fehlen des Gesichtssinnes als einer Kontrolle die Illusion zu stark werden zu lassen und dadurch das unangenehme Gefühl der Wirklichkeit des Donners zu veranlassen. Auch die einseitige Richtung der Aufmerksamkeit auf die Gehörswahrnehmung trägt zur Erhöhung der Illusion bei.

Am Schluße sucht H. noch die Bedeutung der Kunst für die psychische Entwickelung des Blinden näher zu bestimmen und findet sie a) in der Bereicherung des Geistes mit Vorstellungen, des Gemütes mit Empfindungen, b) in der Ausbildung einer idealen Gesinnung.

Arthur Wreschner (Berlin).