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Aichinger, Friedrich: Der Blindenlehrer Friedrich Hitschmann. In: Zeitschrift für das Blindenbildungswesen. Bd. 89 (1969), S. 205-224.

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Friedrich Aichinger:

Der Blindenlehrer Friedrich Hitschmann

Untersuchung seiner Lehren aus der Sicht der neueren Pädagogik

Friedrich Hitschmann ist meist nur aus Sekundärliteratur bekannt, insbesondere durch die Rezension seiner pädagogischen Schrift durch Brandstaeter und Lembcke im Blindenfreund 1899, 1900 und 1902. Er wurde dadurch etwas „berüchtigt“ und gilt zum Teil bis heute als der „Antipode“ der Blindenpädagogik. In seinen Ansichten steht er singulär und hat nie ernsthafte Nachfolger gefunden. Positiver werden seine psychologischen oder mehr theoretischen Abhandlungen bewertet und vielfach auch zitiert. Auf Grund dieser Sonderstellung besitzt es einen gewissen Reiz, Hitschmanns verstreute und oft schwer zugängliche Arbeiten kennenzulernen. Als formaler Mangel sei vorweg genannt, daß die Schriften in aphoristischer Kürze abgefaßt sind. Es fehlt eine methodisch-systematische Darstellung, wie es solch revolutionäre Gedanken verdient hätten. Weiterhin hat man sich gefragt, weshalb H. seine Ideen nicht im Blindenfreund veröffentlichen ließ.

Persönlichkeit und Arbeiten Hitschmanns

Über das Leben Hitschmanns ist wenig bekannt. Er starb 1894 (Z. f. Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1894, 7, S. 387) oder 1895 (Brandstaeter im Blindenfreund). Im dritten Lebensjahr erblindet, jedoch nach eigener Angabe ohne optische Erinnerungen, wurde er Blindenlehrer am Israelitischen Blindeninstitut „Hohe Warte“ in Wien unter Simon Heller. Schon in jüngeren Jahren betätigte er sich literarisch (Versuch, eine Novelle in Briefform zu schreiben). Seine eigentliche wissenschaftlich-produktive Tätigkeit entfaltete sich in den letzten Lebensjahren (1892–1894); die „Blindenpädagogik“ erschien posthum 1895. Bedauerlicherweise fehlt daher eine Stellungnahme H.s zu den Angriffen gegen seine Theorien. Daß er seine Erkenntnisse nicht im Fachorgan der Blindenlehrer zur Diskussion stellte, mag teilweise begründet sein durch das Bestreben, die allgemeine Wissenschaft auf Blindheitsprobleme aufmerksam zu machen und, wie er schreibt, einen „großen Geist“ zur Bearbeitung dieses Gebietes anzuregen. Bei Mell wird H. im „Handbuch“ namentlich nur bei der Behandlung der „Surrogatvorstellungen“ kurz erwähnt (S. 611 und 766). H. hat sich zu normativen (pädagogischen und ästhetischen) und erkenntnistheoretischen (psychologischen und philosophischen) Fragen des Blindenwesens geäußert. Die damals erst aufkommenden soziologischen und rechtlichen Probleme ließ er unberücksichtigt. Seine Auffassungen lassen sich am besten in chronologischer Reihenfolge darstellen, da er sich immer wieder auf frühere Arbeiten beruft.

Verfasser: Friedr. Aichinger, Blindenoberlehrer, 7251 Warmbronn, Hauffstr. 1

1. Über die Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden

(Z. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1892, 3. S. 388 ff.; auch als Sonderdruck „Über die Begründung einer Blindenpsychologie“, Langensalza, 1892).

Einleitend verweist der Verfasser darauf, daß für den 1. Blindenlehrerkongreß 1873 ein Preisausschreiben über das oben angeführte Thema geplant war. Er bezieht sich auf Angaben und Vorarbeiten in Zeitschriften, Broschüren und Vorträgen (ohne Literaturangaben). Seine Erkenntnisse hat er, wie er bescheiden vermerkt, autodidaktisch gewonnen. H.s Forschungsobjekt ist nur der von Geburt an amaurotische Mensch. Auf diesen möchte er die Aufmerksamkeit der Fachwissenschaftler lenken. Er gliedert sein Thema:

a) Unterscheidung des Sinneslebens Blinder von dem der Vollsinnigen,

b) Einfluß der so veränderten Elemente auf die Denk- und Empfindungstätigkeiten der Blinden.

a) H. lehnt das Sinnesvikariat (ohne Gebrauch dieser Bezeichnung) ab (vor Griesbach und Kunz!). Seine Begründung geschieht deduktiv: Man müßte sonst zu dem absurden Gedanken kommen, bei Übrigbleiben nur eines Sinnes (z. B. des Geschmacks), hätte man gleich viel Empfindungen wie die anderen Menschen durch ihre gesunden Sinnesorgane. Das Wahrnehmungs- und Unterscheidungsvermögen wird allein durch stete Übung und ungewöhnliche Konzentration auf sonst nicht beachtete Objekte „verfeinert“ (S. 389). H. nennt interessante Beispiele:

Beim Vorlesen versteht der blinde Zuhörer auch dann die Zusammenhänge, wenn so leise gesprochen wird, daß Vollsinnige nicht mehr zu folgen vermögen (natürlich ist ein funktionstüchtiges Gehör Voraussetzung); Nichtsehende können sich durch das Gehör orientieren; blinde Menschen unterscheiden bei Versuchen Platten, die auf den Tisch geworfen werden, aus dem Klang nach Material und Form (S. 391) – ein Beispiel, das auch Katz zitiert.

Weit weniger als durch das Gehör ist nach H. das geistige Leben des nichtsehenden Menschen durch den Tastsinn beeinflußt. Die Leistungen des Tastsinns werden überschätzt, vor allem auch durch das Bestreben der Blindenpädagogen, „den Blinden dem Vollsinnigen möglichst ähnlich zu machen“.

Hier ist ein Ansatz für die Kritik gegeben. Die spätere Zeit zeigte, daß die Haptik einen ungeahnten Aufschwung nahm, dem, zumindest in der Blindenpsychologie, die Akustik nicht folgte.

Das Seelenleben des blinden Menschen ist nach H. in seiner Entwicklung dem des Vollsinnigen zwar analog, aber nicht gleich.

Die Verwendung des Analogie-Begriffs scheint sehr bedeutungsvoll zu sein. Besonders im biologischen Bereich wird dabei in teleologischem Sinn an eine Zielsetzung bzw. Zielerreichung auf verschiedenen Wegen gedacht. Der Schwerpunkt liegt wohl auf der Formulierung „Entwicklung des Seelenlebens“. Möglicherweise ist dabei auch die Denkentwicklung inbegriffen. Tatsache ist, daß die Primärvorstellungen Sehender und Nichtsehender heterogen sind, das heißt aus unterschiedlichen Sinnesgebieten stammen. Die Kommunikation, die geistige Begegnung, vollzieht sich jedoch auf gleicher Ebene und nach gleichen Prozessen.

Nach H. können nur Gegenstände von einfacher Form und geringem Umfang durch das Tastgefühl unmittelbar wahrgenommen werden, was später auch Heller und andere feststellten (bei Heller: synthetisches, bei den nachfolgenden Autoren: analytisches oder simultanes Tasten). Komplizierte Figuren werden nur durch Kombination der Elemente (sukzessiv oder synthetisch) erkannt. H. weist in diesem Zusammenhang auf den Vorteil der Braille-Schrift hin. Der Tastsinn ist allerdings „eines hohen Grades der Vervollkommnung fähig“ (S. 391). Hiermit in Verbindung steht eine Verfeinerung der manuellen Fertigkeiten, zum Beispiel im Formen von Gegenständen, sogar Vasen oder Köpfen (S. 391 f.). Doch liegt dabei nach H. mehr technisches Geschick als künstlerische Anschauung vor, somit auch nur eine geringe Bereicherung des intellektuellen Lebens. Tastaufschlüsse (etwa bei Blüten) gibt auch das Lippen- und Zungentasten.

Die Vorstellung des Raumes ist nach H. mehr vom Gehör als vom Tastsinn abhängig.

Diese Ansicht wird heute fast allgemein abgelehnt, doch findet man sie immer» hin noch von einigen Psychologen, etwa Hornbostel, vertreten.

Nach H. spielt die Raumvorstellung im Geistesleben blinder Menschen eine geringere Rolle als bei Sehenden. Völlig abwegig sei es, durch Tasten Menschen erkennen oder deren Seelenzustände, zum Beispiel bei Kunstwerken, aus dem Mienenspiel erschließen zu wollen. (Zu ähnlichen Folgerungen kommt bekanntlich Révész.) Der Blinde denkt Personen nicht durch Vergegenwärtigung ihrer körperlichen Erscheinung (sie müßte erst aus zufälligen Details konstruiert werden), sondern „verknüpft … die geistige Persönlichkeit … direkt mit dem sinnlichen Moment, … mit der Stimme“. (Diese Zusammenhänge wurden später ausführlich von E. Dörner untersucht.) Die so gewonnenen Figuren haben „nichts Plastisches“, sondern zerfließen beim Nachlassen der Konzentration (S. 393). Lediglich beim Erwachen des Geschlechtstriebes sollen sich plastischere Formen aufdrängen.

Zu diesen Schlüssen ist kritisch einzuflechten, daß auch der Sehende Personen sich nicht figürlich (vor allem nicht eidetisch) vorstellt, sondern eher in ihrer geistigen Existenz. Weiterhin beschwört die Kopplung von Persönlichkeit und Stimme die Gefahr von Vorurteilen herauf, wie sie selbstverständlich beim Sehenden auch in bezug auf optische Faktoren (Gesichtszüge, Wuchs, Kleidung usw.) gegeben ist.

Auch die nicht besprochenen Sinne sind nach der Verfeinerung fähig, sie sind jedoch beim Nichtsehenden nicht außergewöhnlich entwickelt (S. 393).

b) Der zweite Teil der Arbeit bildet den Angelpunkt von H.s Deduktionen:

Das Sinnesmaterial des Blinden ist wesentlich geringer als jenes der Vollsinnigen. Das Farbenerkennen ist ihm vollständig verschlossen. Aber auch die Phänomene, die untrennbar mit dem Gesicht verbunden sind, werden ihm kaum zugänglich. H. denkt hier vermutlich an Bewegung, Perspektive, Schatten u. ä. Im Widerspruch dazu stehen die Erfahrungen: Der nichtsehende Mensch interessiert sich für weitere Gebiete und liest mehr, als ihm sinnlich zugänglich ist. Allerdings muß dabei, um diesen kritischen Einwand vorwegzunehmen, zunächst an materiell gegebene Qualitäten angeknüpft werden können. Die „Assimilation des wesentlich Fremden“ nennt H. „Surrogatvorstellungen“ (S. 394). Nach seinen Angaben decken sie sich etwa mit dem, was der Psychologe Meinong als „indirekte Vorstellungen“ bezeichnet. Der Begriff der Surrogatvorstellungen, den H., wie er ausdrücklich erwähnt, nicht selbst geprägt hat, soll nach Möglichkeit für die Blindenpsychologie beibehalten werden. Zur Verdeutlichung des Gemeinten wird als Beispiel das Wort „London“ angegeben. Beim blinden Menschen entstehen dazu keine Einzelvorstellungen, trotzdem kann man mit dem Begriff ohne Nachteil für den Verlauf des Denkens operieren. Offensichtlich versteht also H. unter „Surrogatvorstellungen“ von außen herangetragene, nicht konkret-sinnlich erworbene Eindrücke, deren Bedeutung aber der Blinde durch Analogieschlüsse kennt. Sinnlich erfaßte Dinge können also mit Ausnahme ihrer optischen Komponenten nicht Surrogatvorstellungen sein. Die Zahl der Surrogatvorstellungen ist beim Blinden größer als beim Vollsinnigen (S. 394/395).

Mit Recht folgert man daraus, obgleich H. dies nicht ausdrücklich bemerkt, daß auch der Sehende Surrogatvorstellungen besitzt. Dies darf man wohl ohne Bedenken unterstreichen, etwa bei der Vorstellung „Urwald“, „Wüste“, „Himalaja“, selbst „London“, um willkürlich einige Beispiele herauszugreifen. Für viele, ja die meisten Menschen dürften hier Surrogatvorstellungen im Sinne H.s bestehen. Natürlich ist Versinnlichung und damit inhaltliche Bereicherung durch das Bild möglich (oder durch Analogien aus vergleichbaren Erfahrungsgebieten), aber es ist nicht die Wirklichkeit; das Bild gibt nicht alles, besonders wenn es sich um unbekannte Objekte handelt. Erwähnenswert sind etwa auch die Surrogatvorstellungen des Sehenden auf olfaktorischem Gebiet. Nur wenige kennen beispielsweise die Düfte von Balsam, Moschus, Orangenblüten, Rosenöl oder Sandelholz. Dennoch gebraucht man diese Geruchsnamen und operiert mit ihnen; es verbindet sich damit die Vorstellung von „etwas Angenehmem“. Niemand wird durch diesen offensichtlichen Mangel an Sinnesqualitäten eine Frustration erleiden. Die Möglichkeit Surrogatvorstellungen zu hypostasieren, das heißt auf sinnliche Vorstellungen bzw. Wahrnehmungen zurückzuführen, sind für den blinden Menschen geringer. Verdinglichung ist bei ihm überhaupt nur ohne optischen Daten möglich.

In den Surrogatvorstellungen liegt für H. der Schwerpunkt des geistigen Lebens Blinder. „Von der Freiheit und Raschheit ihres Spieles … hängen die Fortschritte seiner Entwicklung ab“, weniger von der Fertigkeit, die eigentlichen Vorstellungen wachzurufen.

(Diese „ketzerische“ Überspitzung wird mit Recht von der Blindenpädagogik bestritten.)

Auch optische Begriffe (Lich – Finsternis usw.) sind nach H. für Nichtsehende kein leerer Schall, er kommt ihnen vielmehr sozusagen „von der engegengesetzten Seite“ bei, der bildlichen oder übertragenen Bedeutung („lichte Tage der Kindheit“, S. 395). Surrogatvorstellungen sind wichtig für die Ausgestaltung des geistigen Lebens, insbesondere auf dem Gebiet der ästhetischen Phantasie. Zu den einzelnen Künsten entsteht beim blinden Menschen ein eigenartiges Verhältnis. Auf dem Gebiet der Musik sind keine Surrogatvorstellungen nötig, weder beim Genießen noch beim Schaffen. Malerei und weiterhin auch Plastik sind ihm verschlossen. (Letzteres bestätigt später Révész experimentell.) Am eigentümlichsten und zwiespältigsten ist das Verhältnis des Nichtsehenden zur Poesie (S. 396). „Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären …“ (S. 396). In der Literatur begegnet er immer wieder Stellen, die er nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Die berühmten blinden Dichter waren nach Hitschmann nicht geburtsblind. – Abstrakte Wissenschaften sind blinden Menschen leicht zugänglich. Die Durchschnittsintelligenz ist sehr hoch.

Dieser Schluß mag vielleicht etwas spekulativ gewonnen worden sein, fußt aber sicher auf langjährigen Erfahrungen im praktischen Schuldienst.

Das vortreffliche Gedächtnis vieler Blinden beruht auf fortgesetzter Übung und dem Wegfall äußerer Reize (Ablenkung). Doch ist das Gedächtnis einseitig auf eine bestimmte Kategorie festgelegt (etwa Wort- oder Musikgedächtnis). H. selbst erklärt, daß er 20 000 Verse auswendig könne; er kann sich jedoch eine fremde Melodie nicht für 24 Stunden einprägen. Andere wieder vermögen 100 Ziffern aus dem Gedächtnis nachzusprechen, aber keinen längeren Satz behalten. Mnemotechnik sei nach H. für Blinde von geringerer Bedeutung, vermutlich wegen der andersartigen psychischen Funktionen des Nichtsehenden gegenüber dem Normalsinnigen (S. 397).

Bekanntlich sind inzwischen viele empirische Untersuchungen über Gedächtnisleistungen Blinder angestellt worden. Es erübrigt sich, hier darauf einzugehen, da ja an dieser Stelle H.s Meinungen dargeboten werden sollen.

Der Autor glaubt, die Momente aufgezeichnet zu haben, von denen eine Blindenpsychologie auszugehen hätte, was zudem „für die Klärung der mannigfachen Vorgänge im Menschengeist überhaupt nicht ohne Wert sein dürfte“ (S. 397).

Tatsächlich hat H. viele der Probleme aufgegriffen, die später aktuell wurden, auch wenn man sie dann zum Teil anders bewertete. Bedauerlich ist, daß der Verfasser nicht streng systematisch vorging und sich vor allem nur auf Eigenbeobachtung stützte. Das Experiment, wie es der Behaviorismus bevorzugt, erscheint bei ihm ausschließlich am Rand. Konkrete Aufzeichnungen fehlen überhaupt. H. scheint es darum zu gehen, tiefgreifende psychologische Unterschiede zwischen Blinden und Sehenden zu deduzieren, die vor allem in den Surrogatvorstellungen kulminieren. Vermutlich ist er der Auffassung, daß das Denken des Sehenden sich in Blinden nach Art eines Films vollzieht. Diese Ansicht ist jedoch durch die Forschungen über die Denkvorstellungen seitens der Psychologen der Würzburger Schule nicht mehr haltbar. Überdies gebraucht auch der Sehende häufig Surrogatvorstellungen, was bereits erwähnt wurde und worauf später noch näher einzugehen ist. Wirkliche seelische Unterschiede dürften eher auf tiefenpsychologischem Gebiet zu suchen sein (vgl. dazu die Untersuchungen von Cutsforth).

2. Über das Traumleben des Blinden

(Z. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1894 (S. 387 ff.). Die tiefgreifenden Unterschiede im Seelenleben Blinder und Sehender im Wachen müssen sich auch in der Traumwelt geltend machen. Hierbei verzeichnet H. wieder besonders eigene Träume und zieht die anderer blinder Personen nur als Ergänzung und Korrektiv heran. Als Literaturhinweis nennt er „Die Illusionen“ von J. Sully und faßt daraus zusammen: Unter allen psychischen Phänomenen besitzt der Traum die größte Ähnlichkeit mit wirklichen Sinneswahrnehmungen. Für den Blinden gilt dies nach H. nicht oder nur beschränkt. Er denkt weit seltener in anschaulichen Bildern als in abstrakten Surrogatvorstellungen. Dies kommt doppelt für den Traum in Betracht. Anschauliche Vorstellungen haften beim Nichtsehenden nur lose im Gefüge des Geistes und vermögen durch die reproduzierende Tätigkeit des Traums kaum über die Schwelle des Bewußtseins zu gelangen. Als Beispiel zeigt H. die Ausprägung desselben Traummotivs bei Blinden und Sehenden. Ein Sehender, der von einem Freund träumt, erkennt dabei auch Nebensächlichkeiten wie Kleider, Zimmer oder Teile des Raumes; beim Blinden entfällt dies wegen der Surrogatvorstellungen, selbst wenn er die Kleider betastet oder das Zimmer durchschritten hätte.

Aussagen und Feststellungen Sehender bestätigen, daß neben optischen auch akustische, haptische, geruchliche oder geschmackliche Eindrücke im Traum erlebt werden. Warum sollte, so muß man daher H. widersprechen der blinde nicht gleichfalls in Daten oder Formen der Restsinne träumen? Tatsächlich ist dies nämlich der Fall, wie blinde Schüler bestätigen und H. weiter unten selbst angibt.

Der Autor erwähnt, noch nie geträumt zu haben, wie er seinen Schreibapparat handhabe oder Blindenschrift lese. Eine größere Rolle spielen die Gehörswahrnehmungen, aber nur, wenn sie durch innere Bedeutung ausgezeichnet sind. Die menschliche Stimme kehrt häufig in den Träumen wieder, sogar Tiere sind mit menschlicher Stimme begabt (S. 388 f.).

Bei der letzteren Feststellung scheint wohl kein Sonderphänomen hervorgehoben zu sein. Auch im Traum des Sehenden und im Märchen, das zu einem Teil als „Kollektivtraum“ bezeichnet werden kann, sind Tiere der menschlichen Stimme oder Sprache mächtig. Hierbei mag wohl eher die Beziehung zum Tier eine wichtige Rolle spielen.

Gelegentlich erscheinen nach H. aber auch sinnliche Eindrücke jeglicher Art, wenn sie im Wachzustand mit Lust oder Unlust verbunden waren (Erwähnung eines Eisenbahntraums: Rollen der Räder, Pfiff der Lokomotive, frischer Luftzug vom Fenster, Geruch von Speisen in den Bahnhöfen). Den hier in Stichwörtern aufgezeigten Traum hatte ein Blinder vor Antritt einer Urlaubsreise in seine Heimatstadt. H. erklärt die Intensität durch die sehnsuchtsvolle Erwartung, die eine wesentliche Steigerung ihres psychischen Wertes und damit ihrer Persistenz hervorruft. H. selbst träumte entsprechend vom Zahnarzt (Stimme, Polsterstuhl, Metall der Instrumente). Selten werden Tastempfindungen geträumt. Interessanterweise erwähnt H. auch das „Sehen“ im Traum (S. 389 f.). Dieses Phänomen hat seit je die Gemüter bewegt. (Es wird später vor allem auch von Schumann untersucht.) H. verneint zunächst die mystische Auffassung, die Seele streife im Traum alle Erdenschwere ab. Träume der Späterblindeten vom Sehen sind dagegen verständlich, selbst dann, wenn die Erinnerungsbilder verblaßt sind. Andererseits vermag die Traumtätigkeit trotz mannigfaltiger Umgruppierung der Sinneselemente keine neuen bzw. anderen oder fremden Sinneserlebnisse zu produzieren (S. 390). Was der Blindgeborene als „Sehen“ träumt, ist Surrogat im eigentlichen Sinn. Es sind, wie H. meint, sicher zufällige und sinnlose Assoziationen. Überdies hat sich nach seiner Auffassung der Blinde mit seinem Los abgefunden und besitzt nicht jene schmerzliche Sehnsucht nach dem Licht, welche sich der Vollsinnige so „poetisch“ ausmalt. Daher ist der Traum des Nichtsehenden auch nicht durch starke Gemütsbewegungen beeinflußt. Zum Problem der Reizträume (durch endo- oder exogene Zustände hervorgerufen) wird festgestellt: Gegen äußere Tastreize ist der Blinde ziemlich unempfindlich (Eigenexperimente H.s). Gehörwahrnehmungen werden bisweilen in ein Traummotiv hineinverwoben (Beispiel: Trompetensignal ruft den Traum von einer Feuersbrunst hervor). Bezüglich der inneren Reize lehnt H die Traumphantasie Scherners und anderer Traumpsychologen (Traum = Symbol) ab. Freud und Breuer, die bereits die Psychoanalyse begründet hatten, werden nicht erwähnt, dürften H. aber bekannt gewesen sein. (Gerade diese aus dem Unterbewußten stammenden Traumformen spielen jedoch seit Jung in der Traumforschung eine große Rolle.) Einen Flugtraum hat H. nie erlebt. Körperliches Mißbehagen wird von ihm im Traum immer als das erlebt, was es tatsächlich ist (zum Beispiel Kopfweh als Kopfweh, Zahnweh als Zahnweh usw.). Der Traum des blinden Menschen ist arm an sinnanschaulichen Vorstellungen (S. 392), hingegen reich an eigentümlichen abstrakten Phänomenen. So werden etwa Schwindelanfälle (H. hatte solche in seiner Jugend öfters) nicht von physischen (dem Herabstürzen), sondern von psychischen Traumaspekten (zum Beispiel undefinierbaren Schrecknissen) angekündigt. H. erwähnt einen „Zahlentraum“; statt einer Addition führt er als Schüler eine Multiplikation durch und ist dann entsetzt über die Größe der Zahl. (Dieser Zustand erscheint bei Vollsinnigen gelegentlich etwa bei realen Vorstellungsversuchen über die Größe des Universums.) Hie und da tauchen auch völlig unpersönlich Träume auf, die H. bei Sehenden nie fand (S. 393). Der Träumer ist dabei unbeteiligter „Zuschauer“, dem vorgelesen oder erzählt wird oder der ein Theaterstück erlebt. H. träumte bisweilen ganze Novellen, Dramen oder Vorlesungen. (Sicher kommen solche Erscheinungen auch bei Sehenden vor, und zwar nicht nur in Einzelfällen.) Sogenannte „schöpferische Träume“, die bekanntlich bei Vollsinnigen ebenfalls eine Rolle spielen, werden in diesem Zusammenhang angeführt. – Der Blinde besitzt ein treueres Gedächtnis, vor allem bei stilistischen Wendungen (Versen u. ä.), was nach H. ein Beweis für das Formgefühl des nichtsehenden Menschen ist (S. 394). Am Schluß zitiert der Verfasser zwei geträumte Strophen, eine eigene und eine fremde.

Der Zweck von H.s Skizze war, auf das (angeblich!) tiefgreifend Unterschiedliche im Traumleben Blinder und Sehender hinzuweisen. Auch wenn dies, besonders in heutiger psychologischer Sicht, nicht gelungen ist, gebührt ihm die Ehre, dieses interessante und die Phantasie so überaus beflügelnde Gebiet der Blindenpsychologische wohl erstmals wissenschaftlich untersucht zu haben. Schmerzlich vermißt man vor allem tiefenpsychologische Aspekte, deren Bedeutung damals nur in engsten Kreisen bekannt war.

3. Der Blinde und die Kunst

(Vierteljahresschrift für wiss. Philosophie, Leipzig, 1893, 17, S. 312 ff.). Ein Jahr vor dem „Traumleben des Blinden“ veröffentlichte H. eine kurze Abhandlung über das Kunsterleben des Nichtsehenden. Der Blinde, der von den Erscheinungen der Außenwelt weniger in Anspruch genommen ist, vermag sich um so mehr dem Zauber der Kunst hinzugeben. Die gesteigerte Intensität seines Innenlebens sichert jedem Eindruck von vornherein größere Lebhaftigkeit und Wirksamkeit zu als beim Vollsinnigen. Die Kunst ist geradezu ein Bildungselement für das Wesen des Blinden. Die bildenden Künste sind allerdings ohne Relevanz; dies gilt auch für die Plastik wegen der geringen Leistungsfähigkeit des Tastsinns. Das Verhältnis zur Musik ist im wesentlichen dasselbe wie beim Sehenden. Die Technik der Wiedergabe mag vielleicht etwas verändert sein (man kann hier etwa an das Violinspiel denken: der blinde Musikschüler kann die Bogenführung nicht beobachten). H. lehnt die Auffassung ab, der Blinde sei außerstande, musikalische Kunstwerke zu schaffen (S. 313). Die Poesie, die in der Mitte zwischen Raumkunst und raumloser Kunst (Musik) steht, nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, was schon in H.s erster Arbeit angedeutet wurde. Der blinde Mensch besitzt zwar zur Dichtkunst enge Beziehungen, die durch den Mangel des Lichtsinns jedoch Modifikationen erfahren. Bei der Darstellung des Psychischen im weitesten Sinn vermag sich der Blinde voll und ganz ihrem Genuß hinzugeben. Werden jedoch Außenwelt und Milieu geschildert, so ist er auf Surrogatvorstellungen angewiesen. Diese werden ihm aber in erstaunlichem Maße geläufig. H. bringt als Beispiel das Gedicht „Maiensonne“ eines Blinden, das erfüllt ist von Bildern und optischen Vorstellungen (S. 314 315). Die Beschreibungen sind nicht etwa „künstlich und absichtlich“, sondern ungezwungen, ein adäquater Ausdruck. Gerade für lyrische Gedichte besitzt der nichtsehende Mensch Empfänglichkeit und hervor- ragendes Talent (letzteres kann, nebenbei bemerkt, durch Schülerarbeiten nachgewiesen und belegt werden). Diese Befähigung rührt nach H. vielleicht daher, daß der Lyriker seine eigene Stimmung zum Ausdruck bringen will und sich deshalb am ehesten innerhalb seiner Grenzen hält. Zum vollen Genuß epischer Dichtungen bedarf es hingegen des Augenlichts in höherem Maße (S. 316). Weder dem Epos noch dem Sinnbild-Roman vermag der Blinde ungehindert zu folgen. Besser ist ihm der Bildungsroman und die Novelle zugänglich (S. 316). Eine Vorliebe besitzt der nichtsehende Mensch für den Dialog als unmittelbaren Ausdruck des psychischen Lebens; dies weist ihn (den Blinden) zum Drama. Es ist ihm „Quelle reichster und nachhaltigster Anregung“. Dabei entfällt für ihn der Gegensatz zwischen Buch- und Spieldrama wegen der Überflüssigkeit einer Dekoration. Durch Nebengeräusche (etwa Donner) wird er eher abgelenkt. H. wagt die Behauptung, der ästhetische Wert eines Stückes könne sehr stark nach dem Eindruck bemessen werden, den das Werk auf einen Blinden macht. Zumindest gilt dies im Hinblick auf die äußere Form, den gesprochenen Vers. Da dem Blinden alles vorgelesen werden muß (damals!), macht man ihn natürlicherweise zunächst mit den besten Werken vertraut, die dann auch sein Stilgefühl bestimmen. Der nichtsehende Mensch besitzt einen ungemein verfeinerten metrischen Sinn, sogar bei Prosastücken. Hierzu kommt die gesteigerte Fähigkeit des Auswendiglernens (S. 318). Die metrische Form ist für ihn Hauptquelle des künstlerischen Genusses. H. faßt die Bedeutung der Kunst für den Blinden zusammen:

a) Die Kunst bewirkt eine Bereicherung des Geistes durch Vorstellungen und des Gemüts durch Empfindungen (hier: Gefühle), wie sie derartig die Natur nicht zu bieten vermag. Zwar sind dem blinden Menschen die Schönheiten der Natur verborgen, nicht aber die Schöpfungen eines Mozart oder Shakespeare (S. 319). Die Kunst besitzt eine dominierende Rolle im intellektuellen Leben des Blinden. Dies widerspricht nicht H.s Behauptung, daß es ihm (dem Nichtsehenden) an Phantasie fehle. Dort war die räumlich-gestaltende Einbildungskraft gemeint, hier eine Art abstrakter schöpferischer Tätigkeit, die keinen Lichtsinn braucht.

b) Durch die Kunst wird das Wesen des blinden Menschen geläutert, erweitert, veredelt, erhoben. Fehler, die ihm zum Vorwurf gemacht werden, beruhen oft auf seinem Zustand des Sinnesausfalls. Selbst im einfachsten Blinden, der ein sehr hartes Leben fristet, findet man eine „gewisse Größe der Auffassung, eine kindliche Freude an allem Schönen und Guten …, eine hohe Idealität der Gesinnung“. Diese Eigenschaften führt H. nicht zuletzt auf die eifrige Kunstpflege zurück (S. 320).

4. Über die Prinzipien der Blindenpädagogik“, Langensalza, 1895

An der pädagogischen Schrift H.s, die als letzte seiner Veröffentlichungen erschien, hat sich die Kritik der Blindenpädagogen hauptsächlich entzündet, während die bisherigen Arbeiten nur in engsten Fachkreisen bekannt wurden. H. geht es hier, wie er betont, um die eigentliche Wissenschaft der Blindenpädagogik, besonders um die Prinzipien und die Systematisierung (S. 3). Bescheiden hält er sich wieder im Hintergrund; erneut verlangt er nach der „berufenen Hand“, die zu einer solchen Zusammenfassung in der Lage ist. Seiner Ansicht nach käme eine solche Untersuchung im weiteren Verlauf zugleich der Allgemeinpädagogik und der Psychologie zugute. Sie würde auch das Verständnis des Seelenlebens Vollsinniger wesentlich erweitern.

Nach H.s Ausführungen ist die Stellung des Pädagogen von zwei bedeutenden Prinzipien bestimmt, entweder vom Sachobjekt (normativer Idealtyp) oder vom Personenobjekt (anthropologischer Bezug) (S. 4). Die Mehrzahl der Blindenpädagogen neigt jedoch dem erstgenannten System zu. Ihr Standpunkt läßt sich so umreißen: Der Nichtsehende muß dem Vollsinnigen „so ähnlich als möglich“ werden (S. 4).

Man könnte, dies ist hier einzuflechten, dabei von Lernschul-Pädagogik mit dem Schwerpunkt auf dem Ziel des Unterrichts sprechen. Wer dagegen das anthropologische Prinzip vertritt, muß mit H. fordern, daß der blinde Mensch „in seiner eigenartigen Besonderheit so vollkommen als möglich“ gemacht wird. In einfacher Weise scheint hier bereits angedeutet, was neuerdings Boldt als „pädagogisch-anthropologische Frage nach dem blinden Menschen“ kennzeichnet, die Forderung, daß der Blinde „zuallererst und wesentlich in seiner Menschlichkeit begriffen und in das pädagogische Denken hineingenommen werden soll“. Die Vertreter der hier als „Lernschul-Pädagogen“ umschriebenen Gruppe hält H. für strenge Anhänger des Pestalozzi’schen Anschauungsprinzips; diesem mißt der Autor jedoch nur eine geringe Bedeutung für die Blindenpädagogik bei. Er verkennt dann allerdings, daß auch Verfechter des anthropologischen Standpunkts die Anschauung an den Anfang allen Unterrichts stellen können, ja müssen da es sich hier im Grunde um ein methodisches Problem handelt.

H. definiert „Anschaulichkeit“ als deutliche und klare Vorstellung, hauptsächlich durch Lichtwahrnehmungen erworben. Anschaulichkeit (besser „Antastlichkeit“) bei blinden Schülern muß folgerichtig durch intensive Schulung des Tastsinns gefördert werden (S. 5). So nur kann möglichste Übereinstimmung zum Sehenden geschaffen werden. Hierbei wird aber nach Meinung H.s mit einer allzu großen Identität von Gesichts- und Tastsinn gerechnet, was den tatsächlichen Gegebenheiten nicht entspricht. Größenverhältnisse können allein im Hand- oder Armtastraum richtig erkannt werden. Mit „Dorf, Stadt, Wiese, Wald“ verbindet der Sehende sogleich einen scharf umgrenzten Eindruck des Lichtsinns (das trifft nur teilweise zu!), der Blinde aber eine völlig unanschauliche („unantastliche”) Vorstellung. Der Nichtsehende mag noch so oft diese Dinge betastet haben, er vermag doch niemals zu behaupten, er habe sie durch den Tastsinn wahrgenommen, das heißt ein Gesamtbild perzipiert (S. 6). (Gegen diese fast dogmatischen Behauptungen erhebt die Blindenpädagogik berechtigte Einwände.) Auch Modelle sind nach H. meist von nur zweifelhaftem Wert, es sei denn, daß es sich um abstrakte Symbole für Richtungen oder Begrenzungen handelt. Weder der Sehende noch der Blinde reproduziert hier die Wirklichkeiten, sondern tatsächlich nur die Sinnbilder (S. 6/7). Bei vergrößernden oder verkleinernden Modellen traut H. keinem blinden Schüler genügend Raumphantasie zu, diese in die richtigen Verhältnisse zu transponieren. Eine ästhetische Betrachtung verringert noch mehr den Parallelismus von Gesicht und Haptik. Plastische Darstellungen sind daher für den Blinden wertlos. Was er erkennt, sind die Eigenschaften des Materials, die für das schauende Auge belanglos sind. Trotz größter Schulung der Hand bleibt die Grenze des Tastsinns eng. Der blinde Mensch wäre zu bedauern, wenn keine anderen Mittel zu seiner Ausbildung vorhanden wären (S. 8). Diese Möglichkeiten gibt es tatsächlich, wenn nämlich die dem Blinden eigenen Anlagen entwickelt werden, unabhängig davon, ob die Ergebnisse mit den Bildungsnormen der Sehenden übereinstimmen. H. verweist auf die schon genannten Surrogatvorstellungen. Mit diesen operiert der blinde Mensch so selbstverständlich, daß er geradezu eines geschärften Unterscheidungsvermögens bedarf, wenn er ihrer überhaupt bewußt werden soll. Der naive Blinde wird sie sogar für die Abbilder der Dinge selbst halten. Diese Surrogate genügen für die Anforderungen des praktischen Lebens und können daher auch vom Lehrer gebraucht werden (S. 9). Leider unterläßt es H., sein System auf dieser Grundlage umfassend auf- und auszubauen. Der „Anschaulichkeit“, oder Anschauung ist also im Unterricht nur geringes Gewicht beizulegen. Doch bemerkt H. ausdrücklich: „Freilich halte auch ich es für notwendig, daß die letzte Basis alles Denkens eine konkrete sei.“ Erfahrung bietet aber das tägliche Leben selbst, Erweiterung ist gelegentlich wichtig, besonders wenn es sich um Anfangsgründe eines Stoffes handelt (S. 10). Die ersparte Zeit verwende man dazu, dem Blinden eine um so größere „Fülle von Vorstellungen“ (Surrogatvorstellungen!) zuzuführen. Das vortreffliche Gedächtnis setzt ihn in den Stand, weit größere Mengen von Eindrücken aufzunehmen als der Sehende unter gleichen Umständen. Bei dieser Methode wird in reicherem Maße die Wißbegierde befriedigt, außerdem erleichtert sie das Verständnis für viele Vorgänge der Außenwelt und den Verkehr mit den Mitmenschen. Auch in sittlicher Hinsicht ergeben sich günstige Auswirkungen. Die gesamte geistige Kraft des Blinden konzentriert sich auf „eine geringe Zahl von Objekten, und die Intensität seines Seelenlebens wird dadurch … erhöht “ (S. 11). Dieser Kraft muß nun durch „reiche intellektuelle Zufuhr“ ein Substrat geboten werden, an dem sie sich zu äußern vermag. Wo dagegen dieser Zufluß an Vorstellungen (Surrogatvorstellungen!) fehlt, erstirbt diese Energie in Stumpfsinn und Apathie, oder es entsteht eine innere Spannung, eine Sehnsucht ohne Ziel. H. ist überzeugt, daß sich auf seinen Elementen ein System der Blindenpädagogik errichten ließe; dieses System hätte sogar manchen Vorteil vor den bisherigen. Freilich komme seinen Ansichten zunächst nur der Wert subjektiver Überzeugung zu, sie basieren jedoch auf planmäßiger Selbstbeobachtung. Der Zweck sei erreicht, wenn die Abhandlung zur Diskussion anrege und zu einer Systematisierung der Blindenpädagogik als Wissenschaft beitrage.

Kritik und Würdigung

Bevor die möglichen pädagogischen Folgerungen aus H.s Lehre erörtert werden, seien einige Stellungnahmen zu seinen Schriften aufgezeichnet. Die Hinweise erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, beweisen jedoch, daß der Wiener Pädagoge nicht ohne Echo blieb.

1899 bringt Lembcke eine Veröffentlichung im Blindenfreund, wo er die Ansichten H.s sachlich wiedergibt. Lembcke stellt fest, daß es sich nicht um einen Prinzipien-, sondern um einen Methodenstreit handelt. Seiner Meinung nach gibt es nicht zwei, sondern drei pädagogische Grundauffassungen, die anthropologische, teleologische und die methodologische. (Diese Klassifizierung wird übrigens heute nicht mehr anerkannt. Man muß vielmehr mit Lochner von einer „Systematischen Pädagogik“ – mit spekulativem, normativem und eher deduktivem Charakter – und einer selbständigen „Erziehungswissenschaft“ – der „erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeitsforschung“ mit empirisch-induktiven Kennzeichen – sprechen. Dabei könnte man in H. vielleicht einen Vorläufer der letztgenannten Richtung sehen.) Lembcke meint, H. vertrete eine reine Intellektbildung und vernachlässige die Anschauung. Er fordert dagegen die Aneignung einer möglichst umfangreichen, innerlich geordneten und zusammenhängenden Masse klarer, deutlicher und leicht reproduzierbarer Vorstellungen und Begriffe; Surrogatvorstellungen sind sinnlich nicht zu vermitteln. Ein Kriterium der Blindenpädagogik ist für Lembcke die inhaltliche Anzahl der Vorstellungen beim Schüler.

Wenig später bringt Brandstaeter eine Erwiderung und Ergänzung zu diesen Ausführungen. Er macht den Versuch einer Rechtfertigung: Idealbildung und Menschenbildung seien im Grunde identisch. Überdies lehre die Geschichte der Blindenpädagogik, daß die Blinden selbst zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen werden wollen. Brandstaeter befaßt sich eingehend mit H.s Umschreibung der begabungsmäßigen „Anlagen“ einer Persönlichkeit. Nach Brandstaeter sind es alle im Menschen liegenden Möglichkeiten, nach H. ist es die durch die Blindheit bedingte Entwicklungsform und die daraus resultierende Beschränkung der Entfaltung. Er wendet ein, daß ein Blinder trotz der Möglichkeit Musiker zu werden, keine Anlagen hierzu haben kann, was eine intensive Ausbildung illusorisch machen würde. Brandstaeter bestreitet, von den blinden Schülern der Quantität und der Qualität nach nicht zu bewältigende Anschauungsaufgaben verlangt werden, und stellt fest, daß nicht nur die sehenden Blindenlehrer möglichst exakte haptische Erkenntnisse für erforderlich halten. In Wirklichkeit seien auch hierin immer die Blinden die Lehrmeister gewesen. Schließlich äußert sich der Verfasser noch zu H.s Surrogatvorstellungen:

a) Die Bildung eines Begriffes ist bei Blinden und Sehenden gleich, wenn auch bei ersteren auf dürftigerer sinnlicher Basis (Kremer spricht später von einem schnelleren Übergang zu Allgemeinvorstellungen höherer Grade). Es ist daher fraglich, ob sich die Begriffe Blinder und Sehender so stark und grundsätzlich unterscheiden.

b) Vorstellungen ganz großer und ganz kleiner Dinge sind bei Sehenden ebenfalls unvollkommen.

c) Der blinde Schüler besitzt ungenügende Vergleichsmöglichkeiten für seine Anschauung. Durch Modelle können tatsächlich falsche Vorstellungen erweckt werden.

Offensichtlich verkennt Brandstaeter teilweise die Bedeutung des Hitschmannschen Terminus. Die genetische Begriffsbildung vom Konkreten zum Abstrakten wurde von H. nicht untersucht. Surrogatvorstellungen gelten bei ihm als nicht eigentlich sinnlich erworben, sondern als exogene Komponenten. Sie sind die „ Assimilation” von etwas Fremdem, um das man wissen, das man aber nicht oder nur teilweise sensorisch erfahren kann. Sicher ist H. in dieser Hinsicht keine Verwechslung unterlaufen; er hat allenfalls, wie schon erwähnt, die Denkprozesse Sehender für allzu sehr optisch affiziert gehalten. Tatsächlich versteht er unter Surrogatvorstellungen das Wissen um etwas konkret-sinnlich nicht Erfahrbares, das also in Wirklichkeit nur ein Glauben oder Fürwahrhalten ist.

Im Blindenfreund 1902 liefert Lembcke noch einmal einen Diskussionsbeitrag. Er untersucht das Problem, ob in der Blindenpädagogik Bildung für die Welt der Blinden oder der Sehenden zu erfolgen habe (was freilich H. überhaupt nicht zur Debatte gestellt hat). Seiner Meinung nach wiederholt sich in der Kontroverse ein Prinzipienstreit der Allgemeinpädagogik: Reformpädagogik gegen Lernschule, Lembcke lehnt das „naturalistische“ Konzept H.s ab. Die Psychologie kann, so stellt er fest, nicht zum Kriterium der Pädagogik werden. In der Schule muß auch ethische und praktische Bildung erfolgen. Die Pädagogik erschöpft sich nicht in der Entwicklung der natürlichen Anlagen, sondern hat auch die Überwindung des Affektiven durch Kräfte der „höheren Welt“ zum Ziel. Daß der blinde Mensch von sich aus „besser“ sei, lehnt Lembcke ab. Die praktische Seite der Blindenpädagogik hat tatsächlich eine Bildung für die Welt der Sehenden zum Ziel. Das Vorstellungsleben kann sich nur auf der Voraussetzung gegenständlichen Denkens entwickeln (Lembcke verweist hier auf Rudolf Hildebrand). Einseitige „Gedächtniskultur“ ist abzulehnen. Die Konsequenz aus H.s Forderungen wäre nach Lembcke die Lösung von der Basis des geistigen Seins.

Damit war der pädagogische Disput vorläufig abgeschlossen; über den „Meuterer“ war der Stab gebrochen.

H.s Name fehlt dagegen in kaum einem späteren blindenpsychologischen Werk. Die Stellungnahmen sind teils skeptisch, teils aber auch positiv. Insbesondere wurden die „Surrogatvorstellungen“ eingehend untersucht, aber auch andere Resultate des Pädagogen wurden aufgegriffen und wiedergegeben. Wichtig erscheint, daß H. durchweg nicht als Scharlatan abgestempelt wurde. Er wirkte im Gegenteil anregend auf die Forschung und erreichte insofern das, was er sich gewünscht hatte. Verschiedene namhafte Autoren sollen hier, gewissermaßen als Beispiele, aufgeführt werden.

Von psychologischer Seite nahm als einer der ersten Theodor Heller zu H. Stellung. Er erwähnt die Bedeutung der Akustik für die Raumvorstellungen Blinder und nennt die Möglichkeit, aus der Stimme den Charakter eines Menschen feststellen zu können, wobei er ausdrücklich H. erwähnt. Das fünfte Kapitel seines Werkes ist mit „Surrogatvorstellungen“ überschrieben. Nach Heller werden letztere erstmals in Kleins Lehrbuch angedeutet. In ihrer Tragweite werden sie jedoch von H. erkannt als Beschränktheit der sinnlichen Erfahrungen einerseits und Reichtum der Sprache andererseits.

Diese Diskrepanz liegt dem Denken blinder Menschen zugrunde. Nur ein Teil ihrer Worte ist mit adäquaten Vorstellungsinhalten erfüllt (Vorstellungsarmut). Nicht selten richten sich die Vorstellungen nach der Sprache. Heller unterscheidet zwei Kategorien von Surrogatvorstellungen:

a) Vorstellungen von Raumverhältnissen (adäquate Auffassungen sind hier möglich; dies wird nur von Wittman, v. Senden und Ahlfeid bestritten; wichtig sind hier die haptischen Erfahrungen).

b) Vorstellung von Licht- und Farbverhältnissen (inadäquat).

Erstere bezeichnet Heller als Surrogatvorstellungen I; er unterteilt sie nochmals in:

1. homologe Vorstellungen (einfache, das heißt Tastvorstellungen).

a) subjektive (Körperhaltung),

b) objektive (Dingbezeichnung);

2. disparate Vorstellungen (akustische und andere Vorstellungen, etwa die Stimme, Raumvorstellungen durch Geräusch; im allgemeinen völlig adäquat).

Surrogatvorstellungen I ergeben Anstöße zu apperzeptiven und assoziativen Beziehungen; sie sind teilweise Ersatz für den Ausfall direkter optischer Wahrnehmungen.

Die Surrogatvorstellungen II stellen eine inadäquate Kategorie dar und basieren zumeist auf der Sprache. Sie haben keinen Einfluß auf die Vorstellungsseite, jedoch auf die Gefühlslage. Wirkungen der Farben können beispielsweise nach Art von Synästhesien erfaßt werden. Literarisch treten Surrogatvorstellungen nicht als solche in Wirksamkeit, sie werden vielmehr durch Gemütsbewegungen ersetzt, die der Dichter offenbar beabsichtigt („blutroter Himmel“). Wichtig ist im allgemeinen das Wortklangbild, nicht das Anschauungsbild, was meist auch der Sehende so empfindet. Insofern irrt hier nach Heller H. zumindest teilweise, wenn er dem blinden Menschen volle literarische Genußfähigkeit abspricht. Surrogatvorstellungen II können sich von ihrer sinnlichen Verbindung am weitesten lösen. Akustische Erlebnisse sind nicht einfach an (sinnliche) Empfindungen gebunden, sondern an Stimmungen. Daher ist der Erlebniszusarnmenhang für die Surrogatvorstellungen von eminenter Wichtigkeit. Daß das Resultat dann keine ursprünglichen Vorstellungen sind, versteht sich von selbst.

Auch Steinberg führt in seinem Buch über Raumwahrnehmungen der Blinden H. mehrmals an und verweist dabei auf die o. a. Darstellung Hellers. Er teilt H.s resignierende Ansicht über das Kunsterleben Blinder. In einem andern Werk („Hauptprobleme der Blindenpsychologie“) erwähnt er die denkpsychologischen Ergebnisse der Würzburger Schule; diese widerlegen zum Teil wie schon gezeigt, H.s Angaben über die Begriffsabläufe Sehender. Steinberg leimt die pädagogischen Konsequenzen H.s ab, andererseits aber auch die bisherige Überbewertung des rein Anschaulichen.

Im Gegensatz zu Steinberg kritisierte, dies sei hier kurz erwähnt, etwas früher der Pädagoge Zech sehr scharf H.s Unterschätzung der Anschauung. Er muß aber ebenso vor Stoffüberhäufung (gemeint sind dabei Anschauungsmittel) warnen.

Peiser erläutert im Zusammenhang mit den Surrogatvorstellungen, der Blinde stütze sich auch dann auf Vorstellungen, wenn er mühelos auf Sinneswahrnehmungen zurückgreifen könne. Er spielt hier wohl auf die oft zu beobachtende Tastscheu blinder Schüler oder Erwachsener an. Die Bedeutung der Surrogatvorstellungen dürfte bei Peiser jedoch unrichtig wiedergegeben sein.

Bei Bürklein ist H. mehrmals erwähnt, allerdings eher in negativem Sinn. Bürklen lehnt die Überlegenheit der Wortvorstellungen entschieden ab; Vorstellungen müssen nach ihm immer aus dem Vergleich mit ähnlichen (bekannten) Wahrnehmungen gewonnen werden. Auch bei ihm bedeuten Surrogatvorstellungen ein schnelleres Verlassen der Anschauung (wie später bei Kremer), wobei er sich im übrigen auf Peisers Definition stützt.

Petzelts tiefschürfende Darlegungen dürften sich mit H.s Auffassungen weithin decken. Petzelt weist auf die Diskrepanz zwischen Bedeutungs- und Wahrnehmungsgegenständen bei blinden Menschen hin. Surrogatvorstellungen haben auch bei ihm überhaupt keine oder nur schwer zu findende sinnliche Fundierung. Anstatt daraus wie H. einen gravierenden Unterschied zwischen Blinden und Sehenden abzuleiten, erklärt er vielmehr, ein verschiedenes „Verstehen“ von Dingen sei nichts grundsätzlich anderes, es gebe allenfalls graduelle Differenzierungen.

Kremer befaßt sich ebenfalls mit den Surrogatvorstellungen. Nach seiner Formulierung sind sie Ersatz für sinnlich nicht voll zu erfassende Gegenstände bzw. klare und deutliche Vorstellungen, aber doch „irgendwie“ sinnlich erworben. Hierzu gehören auch geistige Anschauungen, da sie bereits auf Surrogaten beruhen. Davon geschieden wird das reine „Bedeutungswissen“. Auch Kremers Auffassung scheint nicht ganz mit H. übereinzustimmen; denn hier ist immerhin eine, wenn auch dürftige, sinnliche Basis Voraussetzung für die Begriffsbildung. Die so erworbenen Begriffe sind daher auch unvollkommen. H. postuliert jedoch eine rein exogene Aufnahme der Surrogatvorstellungen, er läßt allenfalls einen Analogieschluß aus nichtoptischen Sinnesgebieten gelten. Gleichwohl erkennt er die Surrogatvorstellungen als den echten Wahrnehmungsvorstellungen „gleichberechtigt“ für die Begriffsbildung an. Interessanterweise stellt Kremer fest – worauf in dieser Arbeit schon hingewiesen wurde –, daß auch der Sehende Surrogatvorstellungen besitzt, allerdings wesentlich weniger als der blinde Mensch.

Seitens der Sinnespsychologie, speziell der Haptik, liefert Révész die experimentelle Bestätigung H.s für die Kunsterfassung (Plastik) Blinder. Er erkennt im wesentlichen auch nur die Material- und Strukturerfassung durch den Tastsinn an. Subtile Differenzierungen sind danach allein dem Auge zugänglich. Durch v. Schumann wurde das Traumleben blinder Menschen genauer erforscht, wobei sehr viele Befragungsergebnisse herangezogen werden. In der Fülle der Literatur ist auch H. genannt. Schumann erklärt, das Träumen von Versen sei zeitbedingt, das heißt für die Spätromantik typisch. Dagegen gilt das Sprechen von Tieren als charakteristisch für Blindenträume. Diese Ansicht wurde hier bereits abgelehnt.

Nachdem seit Lembcke hauptsächlich psychologische Stellungnahmen erfolgt waren, pädagogische Stimmen zu H. sich jedoch nur sporadisch (und dann negativ) geäußert hatten, fand der verkannte Autor eine überraschende und beachtenswerte Würdigung durch Garbe. Letzterer lehnt einen erzwungenen Parallelismus von Gesicht und Tastsinn entschieden ab; der blinde Mensch muß in der ihm eigenen und gemäßen Weise erzogen werden. Sein Recht auf eigene, für ihn brauchbare Lebenstechnik ist nicht bestreitbar. Der Versuch, die Welt der Sehenden ins Tastbare zu übertragen, hat unverschiebbare Grenzen. Garbe erkennt den Wert der Surrogatvorstellungen ausdrücklich an – Gewisse Ausgleichung an H.s Methodik zeigt Garbe bereits in einem früheren Artikel im Blindenfreund. Dort behandelt er den (allerdings recht komplizierten) Chemieunterricht der Blindenschule. Dabei zieht der Autor zugleich wichtige und interessante grundsätzliche pädagogische Folgerungen. Garbe lehnt es als zu schwierig ab, die von den größten Denkern erschaffenen Kulturgüter „nachzudenken“, wie es zum Beispiel die Arbeitsschule fordert. Eher möglich und gleichzeitig viel wichtiger ist das „Nach-Denken“. Insofern verliert etwa im Chemieunterricht das Experiment seine ausschließliche Bedeutung: es ist nur eine Stufe der Untersuchung. „Die moderne Naturwissenschaft hat sich ausdrücklich bewußt gemacht, daß und Deuten einen größeren Teil in ihr ausmacht.“ „Dem Entfalten der Fragen, dem Durchdenken und dem Lernen gebührt der größte Teil des Unterrichts.“ Ähnliches fordert aber auch H., selbst wenn er dies nicht so präzis formuliert. Er erkennt ja die Anschauung als Basis an; von dieser Grundlage aus erfolgt durch Denken und Schließen die Schaffung weiterer Bezüge und Zusammenhänge. Insbesondere wird hierdurch der Übergang zu qualitativ anderen Ausgangsstrukturen (etwa dem optischen Bereich) ermöglicht.

Garbe beruft sich insbesondere auf Heimpel, der 1951 den Begriff des „exemplarischen Lernens“ prägte (Tübinger Resolution). Th. Wilhelm zitiert in seiner „Pädagogik der Gegenwart“ als einen der Kernsätze dieser Konzeption: „Ursprüngliche Phänomene der geistigen Welt können am Beispiel eines einzelnen, vom Schüler wirklich erfaßten Gegenstandes sichtbar werden.“ Der Ablehnung der Stoffanhäufung allgemein entspricht hier die gleichzeitige Ablehnung der Anschauungsüberhäufung in der Blindenschule. Wichtiger als die Fülle ist die Forderung, daß die Beispiele für den blinden Schüler voll erfaßbar sind und realen Bezug haben. Man kann hinzufügen: Wichtiger ist auch, daß der gleiche Gegenstand mehrfach vorhanden ist und tatsächlich jedem Kind zur Verfügung steht. Wenn dabei auch keine Identifizierung mit H. konstruiert werden soll, so ist doch eine gewisse Parallelität und teilweise Übereinstimmung unverkennbar.

Eine Erhärtung dieser Thesen bieten zwei Artikel in einem neueren Heft der „Schulwarte“, in dem vor allem zum Anschauungsprinzip Stellung genommen wird. R. Sauter schreibt dazu an einer Stelle: „Wer immer nur Bilder bringt und zeigt, wer dauernd die vermeintlich unabdingbare Wirklichkeit im Klassenzimmer bereithält oder sie aufsucht, wer seinen Schüler nie das Denken, Überlegen, Schließen zumutet, der geht selbst unter in der Flut der Bilder und Begegnungen. Die Schule ist doch auch heute noch weithin eine Stätte der Schulung, jedoch nicht nur der Sinne, sondern auch der Verstandeskräfte.“ In solchen Sätzen zeigt sich offenkundig eine Wendemarke der Pädagogik. L. Zahn analysierte die genetische Folge der Erkenntnisstufen bis zur Begriffs- bzw. Ideenbildung, wobei den Blindenlehrer Analogien zur Kremerschen Darstellung überraschen. Zahn kommt zu dem Schluß, daß im allgemeinen die meisten Erkenntnisstufen nicht in dieser konsequenten Folge eingehalten werden, sondern ausgeklammert sind. „Die Menschen reifen nicht jeder für sich ihre Empfindungen zu Gefühlen, ihre Wahrnehmungen zu Anschauungen, Vorstellungen, Begriffen und Ideen aus, sondern ihnen werden schon als Kinder Begriffe wie ‚Anschauung‘ entgegengeschleudert, die sie nie empfanden, gefühlt und gedacht haben und die sie auch als Erwachsene, selbst, wenn sie Bücher darüber schreiben, nicht verstehen.“ Er folgert: „Wir müssen, wie überall, so auch und vor allem in unserer Bildung rationalisieren. Wozu Zeit mit langen Herleitungen verschwenden, wo wir die Formeln haben, die Tabellen, die Losungsworte. Unsere Sprache und Welt ist nun einmal abstrakt und funktionell geworden, wir können uns nicht mehr damit aufhalten, sie auf ihre ursprünglichen Anschauungen zurückzuführen.“ Weil H. Ähnliches schon vor 70 Jahren forderte, wurde er verfemt! Zahn fragt schließlich, „ob die Anschauung überhaupt noch in der modernen, durch die Wissenschaft immer unanschaulicher werdenden Welt zur Erkenntnis geeignet erscheint und man nicht vielmehr versuchen müsse, sie ganz zu verlassen“.

In jüngster Zeit findet H. noch bei Beermann eine positive Würdigung. Beermann erwähnt in diesem Zusammenhang die Tatsache, „daß vielfach gerade Schüler mit hohen Intelligenzleistungen beim Erwerb haptisch-dinglicher Kenntnisse versagten“.

Pädagogische Folgerungen

Die bisherigen Ausführungen dürften bewiesen haben, daß eine Revision des Urteils über H. am Platze ist oder schon stattgefunden hat. Wollte man den in seiner Zeitepoche nicht verwurzelten Blindenlehrer von der pädagogischen Systematik oder Historie aus zu fassen versuchen, käme man in nicht geringe Verlegenheit. Seine Lehre enthält Elemente verschiedener Richtungen, auch und gerade der Lernschule mit ihrem Denkformalismus, deren Objektbezogenheit er an sich ablehnt. Mit der Arbeitsschule hat er den „anthropologischen Bezug“ gemeinsam. Freilich ist es fast auch nur dieses Wort, was gleich ist, wenn man beispielsweise die Darstellung Rössgers als Kriterium der Arbeitsschulbewegung betrachtet. Jedenfalls tritt aber bei ihm an Stelle der reformpädagogischen „Kindseinsgemäßheit“ die „Blindseinsgemäßheit“ in den Vordergrund, statt der manuell-schöpferischen Aktivität die geistige Beweglichkeit. Man kann H. individual- oder auch sozialpädagogisch eingestellt nennen. Alle diese Spekulationen sind jedoch zweitrangig. In erster Linie ist er methodisch und didaktisch zu begreifen. Das „Wie“ der Erziehung im Sinne der modernen Erziehungswissenschaft, nicht das „Warum“ oder „Wozu“ der philosophisch-spekulativen Pädagogik dürfte der entscheidende Prüfstein für H. sein. Es ist ungerecht, ihm zu unterstellen, er habe die Anschauung rundweg abgelehnt. Sie ist für ihn (und offenbar heute auch vielfach für die Allgemeinpädagogik) Ausgangspunkt, aber nicht Inhalt und Ziel des Unterrichts. Bloße Anschauung gilt ihm als nicht als fruchtloser Formalismus. Solche Einseitigkeit der Methodik, die Überbetonung des Materiellen, trägt in der Tat die Gefahr hypostatischer Fixierungen in sich, der dinglichen Vergegenständlichung um jeden Preis. Es kann dann zu Fehlleistungen kommen, die vielfach aus der Praxis bekannt sind.

So waren verschiedene blinde Schüler, unabhängig voneinander, der Überzeugung, zu jedem Vogel gehöre selbstverständlich auch das Brettchen, auf dem er festgemacht sei. Das Brett, allzu oft betastet, war zum wesentlichen Inhalt der Vorstellung geworden; der lebendige Bezug ging verloren.

Entscheidend ist daher, was angeschaut bzw. betastet wird, nicht die Menge und nicht die systematische Vollständigkeit. Ein einzelner, typischer und gut durchdachter Teil oder Vorgang kann mehr zeigen, als eine Fülle von Details es vermag. H. verlangt, daß auf die Eigentümlichkeit des blinden Schülers eingegangen wird. Dazu gehört jedoch die Anerkennung, daß konkreter Anschauungserwerb schwierig ist, die „Handhabung“ der Sprache dagegen leicht und „naturbedingt“. Sprachliche Klärung sollte also alle unterrichtlichen Vorgänge durchdringen, wie in der Gehörlosenschule immer und immer wieder das Bild den Unterricht mitgestaltet. Die sprachliche Wiedergabe ist ein entscheidendes Kriterium, ob ein Tatbestand wirklich erfaßt wurde. Ein gewisser Verbalismus muß daher im Blindenunterricht sogar verlangt werden. Es genügt nicht, um ein Beispiel zu nennen, die Größe eines Ars oder Hek- ars durch Ausschreiten, Messen, Rufe usw. gegenständlich gemacht zu haben. Für die Schüler ist dies im allgemeinen zunächst nur ein Spiel, eine amüsante Abwechslung. Die Hauptarbeit ist nun die sprachliche, logische und rechnerische Durchringung mit Problemen des Hausbaus, der Grundstückspreise, der gärtnerischen oder landwirtschaftlichen Ausnützung, wodurch das erlebte Stück Land erst eine tiefere Bedeutung erhält.

Die vorliegende Arbeit hat dargelegt, daß auch die Anschauung des Sehenden ständig mehr den konkreten Untergrund verliert. Surrogatvorstellungen treten immer stärker zum Vorschein. Gebilde wie Computer, Raumschiff, Düsenmotor, Molekularstruktur usw. sind selbst für den Experten nicht mehr „über-“ oder „durchschaubar“; in den Dimensionen des Sternenhimmels verliert die Optik ihre Gültigkeit. Das „Dogma“ von der Anschauung hat unter diesen Aspekten nur mehr relativen Wert. Zum Wissen um die letztliche Unbestimmbarkeit des Menschen tritt die Einsicht über die (von Blinden und Sehenden) nicht voll erkennbare Dingwelt. Doch erhält dadurch die geistige Welt wieder eine größere Relevanz. Bildung ist ein rationaler Vorgang: geistige Prozesse durchdringen das gesamte materielle Dasein. Haftenbleiben im nur Anschaulichen (oder „Antastlichen“) wäre ödester Materialismus und Iieße Gaben des blinden (aber auch des sehenden) Schülers verkümmern, würde ihn an einen nur begrenzten Erlebnisbereich fesseln. In dieser Richtung darf wohl Hs. Beitrag zur Pädagogik zu verstehen sein.

Literaturverzeichnis

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