Hitschmann, Friedrich: Der Blinde in der Gesellschaft. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 21, S.180-182. Wien, 22. Mai 1892.
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Die humane Presse ist mit erfreulichem Eifer bestrebt, die Fortschritte auf dem Gebiete des Blindenwesens in weiten Kreisen bekanntzumachen, und so das Vorurtheil zu bekämpfen, das noch immer als ein verderblicher Druck auf dem Dasein des Lichtberaubten lastet. Die meisten dieser Publikationen beschäftigen sich mit der materiellen Lage des Blinden, doch hoffe ich, dass man auch die nachstehende Skizze darum nicht für überflüssig erachten wird, weil sie einmal statt der physischen die moralischen oder, wenn der Ausdruck gestattet ist, die ethischen Existenzbedingungen des Blinden ins Auge fasst. Es handelt sich darum, dass der Blinde, wenn er sich nicht völlig isoliert und ausgestoßen fühlen und einem trostlosen Pessimismus anheimfallen soll, in den Stand gesetzt werde, an den höheren, den geistigen Interessen theilzunehmen, um sich als lebendig wirkendes Glied der großen Menschheitskette zu fühlen.
In richtiger Würdigung dieses Umstandes streben die meisten Institutsleitungen danach, ihren Zöglingen eine relativ große Durchschnittsbildung zu verleihen. In dem Institut, in dem ich anfwuchs, gab es, um nur ein Beispiel hiefür anzuführen, kaum einen größeren Zögling, der sich nicht, trotz der damit verbundenen Mühe, dieses oder jenes classisches Drama eigenhändig abgeschrieben hätte, und die von manchen Schülern selbst angelegten Gedichtsammlungen waren stets durch die Auswahl der einzelnen Stücke, bisweilen auch durch die planvolle Architektonik der Anordnung in hohem Grade bemerkenswert. Eine solche Vorbildung hat die natürliche Folge, dass den letzteren, auch wenn sie die Erziehungsanstalt verlassen haben, die Anregung und Bethätigung ihrer intellektuellen Kräfte ein unabweisliches Bedürfnis ist. Der Geselligkeitstrieb regt sich in dem Blinden mit verdoppelter Stärke, weil er in dessen Befriedigung Ersatz finden muss für die mannigfachen Genüsse, die sein Gebrechen ihm ganz oder theilweise verschließt. Wenn ich von Geselligkeit rede, so meine ich jene edle Geselligkeit gleichgestimmter Seelen, deren inniger Zusammenschluss auf der Gemeinsamkeit höherer geistiger Interessen und gemüthlicher Bedürfnisse beruht. Und für diese edlere Geselligkeit besitzt der Blinde trotz, ja ich möchte sagen wegen seines Zustandes besonders lebhafte Empfänglichkeit. Inwieweit er jedoch zu ihrer Ausübung auch fähig und berufen ist, darüber will ich in der nachstehenden Skizze einigen Aufschluss zu geben trachten, indem ich mich bemühe, festzustellen, welche Eigenthümlichkeiten die Blindheit als solche im Wesen des Menschen hervorzurufen geeignet ist, und inwieweit diese Eigenthümlichkeiten die gesellschaftliche Stellung des Blinden modificieren.
Die bekannteste, weil augenfälligste dieser Wirkungen ist eine gewisse physische Unbeholfenheit und Unsicherheit, welche daraus entspringt, dass der Blinde häufig über seine locale Umgebung in Zweifel ist, eine Unsicherheit, deren er jedoch bis zu einem erstaunlichen Grade Herr zu werden vermag. Sein Orientierungssinn ist einer so hohen Vervollkommnung fähig, dass er ihn in den Stand setzt, die weitesten Strecken ohne Führer zurückzulegen, selbst wenn sein Weg durch die belebtesten Straßen führt. Auch hunderte Handgriffe des täglichen Bedarfes, für die das Licht des Auges dem Laien unentbehrlich scheinen möchte, weiß er sich anzueignen und trägt seine Fertigkeit nicht selten in Gesellschaft geflissentlich zur Schau. Es fällt dem Blinden meist nicht schwer, sein Brot oder Fleisch selbst zu schneiden, sein Glas selbst aus der Flasche zu füllen oder die Schleife seiner Cravatte selbst zu binden, und die Geschicklichkeit, mit welcher das blinde Mädchen sich durch die mannigfachsten häuslichen Verrichtungen nützlich zu machen versteht, setzt den Fremden oft in Erstaunen.
Indessen scheint mir die Cultivierung solcher Hantierungen nur insoferne berechtigt, als es darauf abzielt, dem Vollsinnigen einen unästhetischen Anblick zu ersparen oder den unumgänglichen Forderungen des äußeren Auslandes zu genügen. Weiter getrieben scheinen solche Bestrebungen mir überflüssig und sogar schädlich, indem sie einerseits bewirken, dass der Blinde als etwas Fremdartiges, Außerordentliches angestaunt wird, und andererseits nur dazu dienen, die Grenzen seiner relativen Selbständigkeit umso schärfer hervorzuheben. Diese Unsicherheit äußert sich auf geistigem Gebiete in einer gewissen Verschüchterung seines ganzen Wesens, welche, wenn sie nicht durch ausgedehnten geselligen Verkehr gemildert wird, gewöhnlich zur Folge hat, dass er sein ganzes Innenleben nur in vertrautem Kreise erschließt, während er unter Fremden stets zurückhaltend bleibt und an der Unterhaltung vorzugsweise passiven Antheil nimmt. Dies gilt indessen nur von der Conversation, nicht von etwaigen Kunstfertigkeiten, wie Musik, Gesang, Declamation; solche Fähigkeiten stellt er auf das bereitwilligste in den Dienst der Gesellschaft, denn er sieht darin ein Mittel, das Missverhältnis zwischen Geben und Empfangen, welches sein für dergleichen Eindrücke äußerst empfängliches Gemüth schwer belastete, einigermaßen auszugleichen. Übrigens darf jene natürliche Schüchternheit nicht mit der finsteren Verschlossenheit und dem herben Mißtrauen verwechselt werden, die sich allerdings auch häufig bei Blinden zeigen, und aus denen man ihnen voreilig genug einen Erbfehler gemacht hat. Diese Verbitterung steht mit der Blindheit selbst in keinem directen Zusammenhang, sondern höchstens mit den schlimmen Erfahrungen, die ihre Ursache gar oft in diesem Gebrechen haben, denen jedoch auch der Vollsinnige in gleichem Maße ausgesetzt sein kann. Einer meiner blinden Freunde war in seiner Jugend durch widerwärtige Familienverhälinisse so sehr verbittert worden, dass er sich fast völlig von jedem Verkehr zurückgezogen und sich ein höchst unzugängliches Wesen angeeignet hatte; da es ihm jedoch seither gelang, sich aus eigener Kraft eine gesicherte Existenz und eine geachtete sociale Stellung zu erringen, erfuhr sein ganzes Naturell eine durchgreifende Wandlung, und er ist auf dem Wege, ein liebenswürdiger Gesellschafter zu werden.
Der bedeutsamste Zug im Wesen des Blinden aber ist die Intensität seines Innenlebens, denn aus ihr entspringen die meisten gesellschaftlichen Vorzüge und Schwächen, welche ihm eigenthümlich zu sein pflegen. Wenn der Blinde ohne Erziehung gänzlich verkümmert und oft bis zur Stufe des Blödsinns herabsinkt, so hat dies seinen Grund darin, dass die Außenwelt als solche nur ungenügend auf seine Sinne zu wirken vermag; ist aber der Funke geistiger Regsamkeit in ihm einmal angefacht, so flammt er um so nachdrücklicher und dauernder fort. Wie er den Raum, den er Jahre hindurch bewohnt, bis auf das kleinste Winkelchen durchforscht und kennt, so gibt es auch auf dem Wissensgebiete, das er sich einmal zu eigen gemacht hat, keinen Punkt, der ihm nicht durch die vielfältigste Recapitulation geläufig und, so oft er es wünscht, völlig gegenwärtig wäre. Ebenso lässt er es in der Musik oder einer andern Kunst, wenn er sie ergriffen, nie an dem eifrigsten Fleiß, ja der peinlichsten Sorgfalt fehlen, so dass er stets das Höchste leistet, was er innerhalb der Grenzen seines Talentes und der ihm zu dessen Ausbildung dargebotenen Gelegenheit irgend imstande ist. Die Folge hievon zeigt sich im Verkehr zunächst in einer Schärfe des Urtheils, welche dem gründlichen Kopf nur anziehend sein kann, und nur diese Disposition macht es möglich, dass auch bei verhältnismäßig geringer Bildung der Blinde durch einen hohen Grad von Intelligenz überrascht; freilich entspringt auch mancher Übelstand aus der gleichen Quelle, und der schlimmste, der sich in Gesellschaft fühlbar macht, ist wohl eine eigenthümliche, erst durch langen Verkehr zu beseitigende Pedanterie, die ihn veranlasst, ohne Rücksicht auf Verständnis oder Interesse des Hörers, und ohne zu bedenken, ob Ort und Zeit sich dazu schicken, seinen Lieblingsgedanken, wenn derselbe im Gespräch anklingt, darzulegen und womöglich zu erschöpfen. Freilich mag hiezu auch der Umstand beitragen, dass er nicht wie der Sehende in der Lage ist, die Aufmerksamkeit seiner Umgebung in jedem Augenblick zu controlieren, weil er über das Mienenspiel und die Haltung seiner Hörer und hundert andere Kleinigkeiten im Unklaren ist, welche den Vollsinnigen bestimmen können, den Gegenstand des Gespräches zu ändern. Ich selbst war seinerzeit mit diesem Fehler in so hohem Grade behaftet, dass ich einmal an einem Ballabend im Gespräch mit mehreren jungen Damen, denen ich soeben vorgestellt worden war, ohneweiters ein Colleg über Goethes „Faust“ improvisierte, wobei ich allerdings das Glück hatte, auf Mädchen von so seltener Geistes- und Herzensbildung zu treffen, dass sie mein Benehmen nicht lächerlich fanden, sondern begriffen und entschuldigten.
Ebenso ist es begreiflich, dass sich der Blinde von einer Ansicht, die er durch eigene, langwierige und oft gar mühevolle Geistesarbeit gewonnen, nur schwer loszumachen vermag, selbst da, wo sie dem Unbefangenen augenscheinlich falsch oder beschränkt erscheint. Darum erhebt man gegen den Blinden den Vorwurf der Unverträglichkeit und des Eigensinns, während im Gegentheil gerade ihm schon infolge jener natürlichen Unsicherheit, welche ihn in Gesellschaft niemals verlässt, ein anschmiegsames Naturell eigen ist.
Mächtiger noch ist der Einfluss, den die Intensität seines Innenlebens auf das Gemüth des Blinden äußert, soweit dieses sich in seinem gesellschaftlichen Verhalten zu offenbaren vermag. Niemand ist geneigter und befähigter als er, ein Kunstwerk, zu dessen Verständnis das Auge nicht unerlässlich ist, aufzufassen und zu würdigen, daher Musik und Literatur die Lieblingsgegenstände seiner Unterhaltung bilden. Liebenswürdigkeit und aufmerksames Entgegenkommen fühlt er tief, und nichts ist unbegründeter als der Vorwurf, dass er im allgemeinen undankbar sei. Aber freilich gewöhnt er sich in Gesellschaft besserer Menschen leicht daran, manche Hilfeleistung, die der Moment veranlasst, als selbstverständlich zu erwarten und hinzunehmen, 'statt sie, wie der Sehende oft zu verlangen geneigt scheint, jedesmal als eine besondere Gefälligkeit anzusehen.
Die Weichheit und Hingebung, welche dem Gemüth des Blinden eigen ist, und die ihm auch zur Zeit seiner Vollkraft etwas Weibliches verleiht, lässt ihn naturgemäß den Verkehr mit Frauen bevorzugen, und auch diese fühlen sich gar oft wie durch Wahlverwandtschaft zu ihm hingezogen.
Der Mangel des Lichtsinns verringert auch die sinnliche Erregbarkeit des Blinden um ein Bedeutendes, und so ist dieser weit mehr als der Vollsinnige in der Lage, sich dem Zauber rein ideeller, sogenannter platonischer Verhältnisse rückhaltslos hinzugeben.
Die in neuerer Zeit mehrfach discutierte Frage der Blindenehe kann ich in diesem Zusammenhang begreiflicherweise nur streifen. Sie scheint mir übrigens rein praktischer Natur zu sein, denn freilich muss sich der Blinde, dessen praktische Thätigkeit oft nicht einmal ihm selbst den Lebensunterhalt zu sichern vermag, reiflich bedenken, ehe er die Verantwortung auf sich nimmt, welche die Begründung einer eigenen Familie ihm auferlegt; dass er jedoch mit seinem reichen Gemüthe, welches der Liebe in so hohem Grade bedürftig und fähig ist, auf das Familienleben geradezu hingewiesen scheint, das, glaube ich, ist über jeden Zweifel erhaben. Über die Ehe Blinder mit Blinden hat die Wissenschaft noch nicht ihr letztes Wort gesprochen; wenn jedoch erwiesen werden sollte, dass die Kinder aus solcher Ehe nicht nothwendig das Gebrechen ihrer Eltern theilen müssen, dann ließe sich, abgesehen von verstärkten materiellen Bedenken, auch gegen sie wohl nichts Ernstliches einwenden. Wie aus dem intensiveren Geistesleben des Blinden, so entspringen auch aus der Lebhaftigkeit seines Gemüthes manche Übelstände, die wohl in dem Vorwurf gipfeln, dass er äußerst empfindlich und besonders durch alles, was auf sein Gebrechen Bezug hat, leicht zu verletzen sei. Man nimmt gewöhnlich an, der Blinde fühle, so wie der Sehende fühlte, wenn er etwa durch einen Unfall plötzlich des Augenlichtes beraubt würde, und vergisst zu bedenken, dass jener sich durch jahrelange Gewohnheit in seinen Zustand hineingefunden und die wahre Schätzung dessen, was er entbehrt, längst verloren oder gar nie besessen hat. Ich selbst habe von Blinden behaupten hören, sie stünden dem Sehenden in nichts oder doch nur in unwesentlichen Dingen nach, und hielten die Blindheit daher für kein besonderes Unglück. Demnach ist die Ängstlichkeit, mit welcher zartfühlende Menschen so oft alles vermeiden, was den Blinden an sein Leiden erinnern könnte, als durchaus überflüssig anzusehen. Nur wenn brutale Lieblosigkeit oder kalte Neugier an ihn herantreten, pflegt der Blinde es bitter zu empfinden. Auf theilnehmende Fragen dagegen antwortet er gern und ausführlich, und ist sogar stolz darauf, den Fragenden mit den mannigfachen Errungenschaften bekanntzumachen, welche das bereits hochentwickelte Blindenwesen unserer Tage aufzuweisen hat. In geselligem Kreise freilich sei es dem Blinden vergönnt, jede hemmende Schranke, jede störende Besonderheit seines Wesens zu vergessen und sich als Mensch unter Menschen zu fühlen, weil er nur so die hohen Segnungen wahrer Geselligkeit zu genießen vermag, für welche er, wie ich gezeigt zu haben glaube, in hohem Maße beanlagt ist. Friedrich Hitschmann.