Hitschmann, Friedrich: Die Erinnerung. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 9, S.73-74. Wien, 26. Februar 1893.
Online-Version: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=whz&datum=1893&page=77&size=45
Ich lade Sie ein, meine Damen und Herren, Ihre Aufmerksamkeit mit mir einer Frage zuzuwenden, welche zwar schon oft genug aphoristisch gestreift, aber meines Wissens noch niemals in präciser Formulierung behandelt worden ist, der Frage nämlich, ob und in welchein Maße die Erinnerung geeignet sei, unser Glück zu fördern oder zu beeinträchtigen. Auf den ersten Blick scheint die Antwort beinahe selbstverständlich zu sein. Wenn die Aufgabe des Gedächtnisses darin besteht, uns Vergangenes noch einmal vor die Seele zu rufen, so wird, sollte man meinen, die Erinnerung uns in eben dem Grade wohl oder wehe thun, als Lust oder Leid die Elemente unseres entschwundenen Lebens ausmachten. Indessen wird eine kurze Betrachtung lehren, dass die Sache keineswegs so einfach liegt. Wer gewöhnt ist, sich an jedem Abende Rechenschaft darüber abzulegen, was er an dem verflossenen Tage gedacht und empfunden, gethan und erfahren hat, dem ist es ohne Zweifel längst klar geworden, dass auch das beste Gedächtnis von der Überfülle der Eindrücke, die den Geist unaufhörlich bestürmen und in rastloser Thätigkeit erhallen, nur einen verschwindend geringen Theil zu bewahren vermag, und wenn es sich vollends darum handelt, einen größeren Zeitabschnitt zu überblicken, so muss jeder unbedenklich zugeben, dass er sich nicht auf alle Einzelheiten des Erlebten zu besinnen weiß, sondern dass vielmehr vor seinem inneren Blick bloß einzelne Dinge, Personen, Begebenheiten, gleichsam als Inseln aus dem weiten Meere des Vergessens emportauchen. Es entsteht somit die neue Frage: Wie muss ein Eindruck beschaffen sein, um von dem Gedächtnis leicht reproduciert, d. h. zu einem Erinnerungsbilde verarbeitet werden zu können? — Auch diesmal scheint sich die Antwort ganz von selbst darzubieten. Das Gedächtnis, sagt man, erinnert sich eben nur an das Wichtige und Wesentliche und wirft alles zufällige Detail als unnützen Ballast über Bord. Das wäre nun freilich einfach genug, aber leider lehrt uns die Erfahrung in vielen Fällen gerade das Gegentheil. Jeder Schüler weiß davon zu berichten, wie er sich bei irgend einer Gelegenheit vergebens angestrengt habe, sich einer mathematischen Formel, einer Regel der Grammatik rc. zu entsinnen, während er sich doch ganz genau daran erinnerte, dass der betreffende Abschnitt im Druck durch gesperrte Lettern ausgezeichnet war und die letzten vier Zeilen einer Seite ausfüllle. Auch unsere Träume sind zum großen Theil nichts anderes als Erinnerungen, und wer wollte behaupten, dass ihr buntes Chaos gerade das Wesentliche an den Dingen widerspiegle? Die ganze Unhaltbarkeit dieser Ansicht jedoch tritt hervor, wenn ich die weitere Frage aufwerfe, was denn eigentlich das Wesentliche sei, das den Gegenstand des Gedächtnisses ausmachen soll. Der Schuster in der Anekdote, der vom König in Audienz empfangen worden, weiß auf die Frage, wie der Monarch ihm gefallen habe, nur mit einer ausführlichen Beschreibung von dessen Schuhwerk zu antworten, und der Schneider in Goethes „Egmont„ rühmt dem Grafen bewundernd nach, sein Wams sei vom neuesten, spanischen Schnitte gewesen. Dem Schuster stellt sich eben die Fußbekleidung, dem Schneider der Rock als das Wesentliche am Menschen dar. Woher kommt nun diese auffällige Erscheinung? Ich will versuchen, sie zu erklären, weil wir auf diesem Wege auch zur Lösung unserer eigentlichen Aufgabe gelangen und die Bedeutung erkennen werden, welche die Erinnerung für unsere Glückseligkeit gewinnen kann. Die Vorstellungen unseres Geistes sind, wie wir selbst, geselliger Natur, und auch von ihnen gilt der Satz, dass Gleiches sich gerne zu Gleichem fügt. Der Musiker hat für Melodien, der Schauspieler für Verse, der Bildhauer für Formen ein besonders treues Gedächtnis, denn ihr Geist ist erfüllt von ähnlichen Eindrücken, an welche die neu herandringenden sich schließen, mit denen sie in eins verschmelzen können, während sich die selben Vorstellungen im Kopfe eines dürren Zahlenmenschen völlig vereinsamt und haltlos fühlen und darum stets geneigt sein werden, die ungastliche Stätte baldmöglichst wieder zu verlassen. Was aus dem Gesagten für unseren Gegenstand folgt, ist leicht ersichtlich. Die Menschen unterscheiden sich in solche, die alles in rosigem Lichte sehen, und in solche, die, wenn sie ein Bild des Weltlaufs zu entwerfen beabsichtigen, nicht Schwarz genug auf die Palette nehmen zu können glauben. Fast scheint es überflüssig hinzuzufügen, dass ich jene beiden Geistesrichtungen im Auge habe, welche unter dem Namen des Optimismus und Pessimismus bekannt sind, und für deren eine, seit sie in unseren Tagen in hellgeschiedenem Kampfe auf einanderstießen, auch unter den Laien jedermann Partei ergreift. Wer nun günstig, d. h. optimistisch veranlagt ist, wird nicht bloß an allem, was ihm begegnet, eine gute Seite herauszufinden wissen, sondern diese gute Seite wird für ihn auch das Wesentliche an den Dingen sein, und sein Gedächtnis wird demnach alles, was ihn angenehm berührt hat, dauernder bewahren und lebhafter reproducieren als das, was ihm widerwärtig gewesen ist. Umgekehrt wird der Pessimist, notabene der aufrichtige, dem sein System nicht bloß ein dankbares Declamationsthema, sondern wirklich und wahrhaftig Lebensauffassung ist, gerade das, was ihn kränkt und ärgert, als den Kern der Dinge ansehen, und demgemäß wird auch sein Erinnerungsvermögen jederzeit mehr schmerzliche als freudige Eindrücke bewahren. Es gibt ein physikalisches Instrument, mit dessen Hilfe es möglich ist, in einem angeschlagenen Accord einen einzelnen Ton unverhältnismäßig zu verstärken; das menschliche Gedächtnis hat nach dem Gesagten eine ganz ähnliche Wirkung, freilich mit dem bedeutsamen Unterschiede, dass die Bethätigung jenes Apparates natürlich ganz in der Hand des Experimentators liegt, während das Gedächtnis mehr oder weniger unabhängig von unserem Willen functioniert. Man muss, dünkt mich, auch in dieser Hinsicht den Pessimismus, ganz abgesehen von dem Grade innerer Berechtigung, die ihm etwa zukommen mag, als ein schweres Unglück für den betrachten, der ihn oder vielmehr den er hat. Unter dem angegebenen Gesichtspunkte wird es auch begreiflich, wieso oft zwei Personen, welche beide mit der größten Aufrichtigkeit aus der eigenen Erfahrung schöpfen, doch die entgegengesetzten Urtheile über das Wesen der Erinnerung fällen können. Der eine spricht von dem verklärenden Zauber der Erinnerung, der ihm seine ganze Vergangenheit idealisiert erscheinen lässt; der andere findet es räthselhaft, wie er sich noch kürzlich für eine bestimmte Sache oder Person begeistern konnte, während er sich heute schlechterdings auf nichts mehr zu besinnen weiß, was sein damaliges Entzücken zu motivieren vermöchte. Man sieht, dass auch die Frage, ob die Treue mehr sei als ein leerer Wahn, und ob Liebe und Freundschaft der Trennung auf die Dauer zu widerstehen imstande sind, mit unserem Gegenstände innig zusammenhängt, indem in der Regel nur der Optimist, dem fein Gedächtnis vorzugsweise angenehme Eindrücke aufbewahrt, lange an seiner Neigung festhalten wird, auch wenn räumliche und zeitliche Trennung ihre abschwächende Wirkung geltend machen. Als glückfördernd kann sich übrigens auch für ihn die Erinnerung nur dann erweisen, wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihr zu Hilfe kommt, weil ohne diese auch die freundlichsten Bilder entschwundener Tage ihm keinen intensiven Genuss bereiten können. Mit vollem Recht nennt der phantasievolle Optimist Jean Paul die Erinnerung ein Paradies, aus dem der Mensch nicht vertrieben zu werden vermöge; denn einem Geiste, wie dem seinen, müsste der unverlierbare Schatz lieblicher Erinnerungen in Stunden der Bedrängnis reichen Trost gewähren; aber eben dieselbe subjective Wahrheit muss auch dem Ausspruch des kühlen Epigrammatikers zugestanden werden, der ihm entgegnet:
Du hast Erinnerung ein Paradies genannt.
Aus dem kein Gott im Zorn die Sterblichen verbannt;
Das ist, als wollte man zum Trost in Hungersqualen
Mit Speisen reich besetzt ihm eine Tafel — malen.
Friedrich Hitschmann.