Hitschmann, Friedrich: Die höhere Tochter. In: Perles, Moritz (Hrsg.): Taussig's Illustrirter Wiener Hausfrauen-Kalender pro 1894, S.9-13. Wien, 1894.

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Die höhere Tochter.

Eine philosophische Plauderei.

»Und sie sind wirklich ein Gegner der höheren Töchterschulen? Ja, sagen Sie Herr Doctor, wie können sie sich unsere gute Gesellschaft auch nur vorstellen ohne diese überaus wichtige und nothwendige Institution?« »Vorstellen kann ich sie mir allerdings nicht, meine Gnädige, aber damit ist nichts bewiesen.« »Wie soll ich das verstehen?« »Ja nun, ich meine, dass die höhere Töchterschule auf die Ausgestaltung unseres ganzen geselligen Lebens in der That von größtem Einfluß ist und in hundert fertigen Formen desselben ihren beredten Ausdruck findet. Es giebt eine höhere Töchterbildung, höhere Töchtermanieren und Ausdrucksweise, ja vielleicht dürfte man ohne Uebertreibung von höheren Töchter-Coiffüren, -Toiletten, -Gesichtern sprechen. Ob dieser tiefgreifende Einfluß aber ein wohlthätiger sei, wäre erst noch zu beweisen und wie ich glaube, schwer zu beweisen? »Ei, ei, das klingt ja fast nach einer Kapuzinerpredigt gegen die Weiber, nach dem berühmten Muster von Glasbrenner.« »Auch Glasbrenner hat in vielem recht gehabt und nur damit unrecht gethan, dass er seine Stand- und Brandrede in Verse brachte. Denn es gibt Schäden, die man nur heilen kann, wenn man sie nüchtern und prosaisch bei ihrem wahren Namen nennt.«

»Nun denn, Sie Fanatiker der Wahrheit, ich merke, dass Sie es darauf abgesehen haben, Ihrem Ingrimm gegen die »höhere Tochter« einmal recht gründlich Luft zu machen. Sprechen Sie sich aus, wenn es Ihnen Erleichterung gewährt; ich will still halten, vorausgesetzt, dass Sie nicht unhöflich werden, und meine Geduld nicht länger als ein Viertelstündchen auf die Probe stellen.« »Ihre Bedingungen sind hart, gnädige Frau, aber ich will doch versuchen, auf sie einzugehen. Ich behaupte also erstens, dass Alles, was man an diesen Anstalten lernt, ohne jede tiefere Bedeutung ist, theils weil es sich um wertlose Kenntnisse handelt, theils weil es in bodenlos oberflächlicher Weise geschieht und unter den gegebenen Umständen gar nicht anders geschehen kann. Nur Geduld, ich will es beweisen. Wenn das vierzehnjährige Mädchen die Bürgerschule verlässt, athmet es erleichtert auf. Bis zu diesem Augenblick ist die Kleine als Kind behandelt worden; nun fühlt sie sich als erwachsen und brennt vor Begierde, diese Thatsache ihres Bewußtseins auch von Anderen anerkannt zu sehen. Mit dieser stolzen Empfindung reimt es sich schlecht, dass sie nochmals mit dem Bücherränzchen zur Schule wandern soll, um die allerdings noch sehr beträchtlichen Lücken ihres Wissens auszufüllen. Und die unternehmende Directorin, der viel daran gelegen sein muss, die Sympathie ihrer Zöglinge zu gewinnen, hat alle Hände voll zu thun, um zu verhindern, dass das jugendliche Selbstgefühl sich nicht als Abneigung gegen die erzwungene Fortsetzung des Schulbesuches äußere. Was Wunder, wenn man sich unter solchen Umständen nicht pedantisch dabei aufhält, die bereits erworbenen Kenntnisse zu sichern und allmälig zu vertiefen, sondern einzig darnach strebt, den Schülerinnen soviel Neues und Interessantes zu bieten, als mit ihrer Bequemlichkeit irgend vereinbar ist, sie gleichsam den concentrierten Parfüm der Wissenschaft einathmen zu lassen. Da wird Kunstgeschichte und Erziehungskunde, deutsche und französische Literatur und die Götter wissen, was noch alles gelehrt, meistens Disciplinen, von denen jede einzelne, um gründlich bewältigt zu werden, Jahre ernster Thätigkeit erfordern würde, während sie hier mit spielender Leichtigkeit und in einer erstaunlich geringen Zahl von Lehrstunden abgethan wird. Fast scheint es, als ob die Rose der Erkenntniß freiwillig sich all ihrer Dornen entäußere, um wie eine der Schönheit dargebrachte Huldigung den jungen Mädchen mühelos in den Schoß zu fallen. Aber es scheint auch nur so. In Wahrheit ist das Wissen der höheren Tochter nur um Weniges reicher, aber um vieles chaotischer als das des Schulkindes. Ich wüsste diese Behauptung aus meiner Lehrerpraxis durch eine Fülle von Thatsachen zu illustrieren und will mich nur der Kürze halber mit einem einzigen Beispiel begnügen. Ein junges Mädchen, das übrigens keineswegs zu den un begabten gehörte, beschrieb mir einmal auf das Umständlichste ein Passionspiel, eine jener dramatischen Darstellungen der Leiden Christi, wie man sie im Mittelalter in unseren Kirchen aufzuführen pflegte. Als ich sie aber fragte, wann diese Feste stattgefunden hätten, meinte sie nachsinnend, es dürfte im dritten Jahrhundert vor Christi gewesen sein. Dergleichen Mißgriffe sind wohl geeignet, das Widersinnige einer lediglich auf den äußeren Schein abzielenden Bildung zu offenbaren; indessen sind sie gewöhnlich minder krass und der Umstand, dass die höhere Tochter etwas französisch und englisch spricht, dass sie tanzen, singen, Clavier spielen, vielleicht gar zeichnen und malen kann, und auf jeden Fall die geselligen Formen mit einiger Sicherheit beherrscht, ist häufig genug ausreichend, um den Mann, der wenig Erfahrung besitzt, oder auch sehr bescheiden in seinen Ansprüchen ist, in dem Wahne zu bestärken, dass er es mit einer gebildeten, jungen Dame zu thun habe. Ihnen, gnädige Frau, die Sie mich kennen, brauche ich wohl nicht erst zu versichern, dass es mir ferne liegt, mich zum Vorkämpfer des Unwesens machen zu wollen, welches schon vor mehr als zweihundert Jahren Molière in seinen »Gelehrten Frauen« verspottet hat. Ich huldige, wie Sie wissen dem Grundsatz, dass für die Bildung der Menschen und besonders der Frauen, nicht die Menge von Kenntnissen maßgebend, die sie in sich aufgespeichert haben, sondern vielmehr der Grad, in dem es ihnen gelang, diese Kenntnisse zu assimilieren, sie gleichsam geistig zu verdauen. Nur wer sein Wissen vollkommen beherrscht, wer seine ganze Persönlichkeit damit durchtränkt hat, wird in Wahrheit das innere Bedürfnis nach einer Mehrung seines Wissenschatzes empfinden; nur er wird jenes aufrichtige Interesse gewinnen, welches mindestens nach meiner Ueberzeugung die unerläßliche Vorbedingung alles intellectuellen Fortschrittes ausmacht. Nach diesem Programm können Sie sich leicht vorstellen, wie unsympathisch mir eine Erziehungsanstalt sein muss, deren Lehrplan naturgemäß ebenso seicht als vielumfassend ist. Aber was rede ich noch von Erziehung? Welche Lehrkraft hätte noch den Muth, die jungen Damen, welche, wie man sich ausdrückt, der Schule ent achsen sind, anders denn als in sich vollendete sittlich ausgereifte Wesen zu behandeln. Ich weiß von Fällen, wo ein Professor ein Mädchen, das, seiner Würde als Dame unbeschadet, während der Schulstunde wiederholt schwätzte und Possen trieb, mit ernsten Worten zurecht wies, worauf besagtes Mädchen besagten Lehrer für sein ungebührliches Betragen dadurch strafte, dass es ihm während der ganzen Schulstunde konsequent jede Antwort verweigerte. Die Sache endete freilich mit einer Entschuldigung, aber nicht von seiten der Schülerin, sondern des Lehrers, der denn auch schließlich Verzeihung erlangte. Nun wäre es allerdings ungerecht anzunehmen, dass die Lehrer zu einer solchen Hinopferung ihrer berechtigten Autorität vorwiegend durch materielle Interessen bestimmt würden, indem sie den Vortheil der Anstalt im Auge behielten, um ihrer einträglichen Stellung an derselben sicher zu bleiben. Vielmehr lässt sich die Mehrzahl von einer unbewußten Galanterie und dem Ehrgeiz leiten, nicht für Pedanten gehalten zu werden; es ist den Herren daran gelegen, zu zeigen, dass ihre Büchergelehrsamkeit sie nicht verhindert, zwischen Schülern und Schülerinnen einen Unterschied zu machen. Dabei lassen sich all' die wenig sachgemäßen Rücksichten vortrefflich durch pädagogische Ausflüchte maskieren, indem es nahe liegt, sich zu bereden, die bei jungen Mädchen nun einmal thatsächlich gegebenen Voraussetzungen machten ein solches Verhalten wünschenswert, ja nothwendig. Das Alles mag das Vorgehen der Lehrer erklären und zum Theil entschuldigen, es hebt aber die schlimmen Wirkungen desselben keineswegs auf. Die höhere Tochter lernt es nicht, zu dem Vertreter der Wissenschaft mit der geziemenden Achtung aufzublicken und da die Frauen von Natur dazu geneigt sind, die Person mit der Sache zu verwechseln, so gewinnt auch das Wissen in ihren Augen keine sonderliche Weihe. Dagegen fängt das junge Mädchen auf diese Weise frühe an, sich dem Manne gegenüber als Weib zu fühlen und zu gerieren, und Eitelkeit. Putzsucht und kleinliche Rivalität schlagen in ihrem jugendlichen Herzen Wurzel. Man zeige mir den Zögling einer derartigen Anstalt, der nicht hundertmal lieber ein Lehrbuch als einen Schmuckgegenstand zuhause vergäße und dem die Halsbinde oder der Schnurrbart des Professors nicht interessanter wäre als sein Vortrag. Wenn man —« »Halten Sie ein lieber Doctor!« »Warum? ich habe noch viel zu sagen.« »Sehr wohl! aber erstens ist die Viertelstunde, die ich Ihnen bewilligt habe, bereits überschritten und zweitens höre ich eben meine Rosa nach Hause kommen, welche, wie Sie vielleicht nicht wissen, gleichfalls eine höhere Töchterschule besucht. Ich nehme an, dass Sie schon aus pädagogischen Gründen geneigt sein werden, Ihre Philippika zu unterbrechen.« »Freilich, freilich, das ist etwas Anderes . . . Aber es thut mir leid, ich war eben im Begriffe recht in Fluß zu kommen.«

Friedrich Hitschmann.