Hitschmann, Friedrich: Gedankensplitter. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 36, S.303. Wien, 6. September 1896.

Online-Version: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=whz&datum=1896&page=307&size=45

Album der Poesie.

Gedankensplitter.

Gegen die Naturalisten.

Unsere Zustände schmäht ihr und wollt eine neue Gesellschaft?
Niederzureißen ist leicht, aber das Bauen ist schwer.

* * *

Krank und verdorben nennt ihr unsere Zeit?
Ich kann es leider nicht so ganz verneinen:
Doch wenn ich's recht erwäge, will mir scheinen
Dass ihr, die Ärzte, selbst am kränksten seid.

* * *

Aus Irrthum war die Menschheit lang geneigt,
Zu glauben, nur die Reinlichkeit sei gut;
Erst die Modernen haben uns gezeigt,
Welch große Heilkraft in dem Schmutze ruht.

* * *

Seit wann hat sich die Welt so weit
Von ihrem sonst'gen Lauf entfernt,
Dass man im Tollhaus Weisheit lernt
Und im Gefängnis Sittlichkeit?

* * *

„Willst du erfahren, was sich ziemt,“ sagt Goethe,
„So frage nur bei edlen Frauen an;“
Doch dieser Frauen Wangen färbt die Röthe
Der Scham vor dem veristischen Roman.

* * *

Die Dichtung, sagt man, sei ein Spiegel ihrer Zeit.
Weh' uns, wenn Zola uns ein Bild der unsern beut.

* * *

Was Großes, Hohes je die Menschen schauten
Naturalisten haben's nicht gemacht;
Aus Marmor, nicht aus Schlamm und Koth erbauten
Schon die Hellenen ihrer Tempel Pracht.

* * *

Sagt, wenn die Welt so schreckenvoll
Und finster ist, wie ihr sie findet,
Woher das Licht denn konmen soll,
Das ahnend ihr voraus verkündet ?

* * *

Stoff zu Xenien wär'
Auch heut' noch in Fülle vorhanden,
Leider fehlen uns nur
Schiller und Goethe dazu.

* * *

Ihr seid in einem Rechte, wenn ihr nicht
Den Kauderwelsch des Dialects verschmäht.
Denn dieser ist es, den die Menge spricht.
Was thut’s, dass ihn der Leser nicht versteht?

* * *

Dichterschulen sind oft der thörichten Herde vergleichbar,
Die ihrem Leithammel folgt, wär's auch hinein in den Sumpf.

Friedrich Hitschmann.