Hitschmann, Friedrich: Literarische Frauenbilder. II. Fanni Lewald. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 7, S.58-60. Wien, 12. Februar 1893.
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In den meisten Compendien der Literaturgeschichte, soweit diese sich überhaupt mit den Erzeugnissen moderner Belletristik beschäftigen, ist nicht eben viel von Fanni Lewald die Rede, und zwar aus einem naheliegenden Grunde. Das Hauptinteresse, das diese bedeutende Frau uns einflößt, liegt nämlich nicht in ihren Romanen, denen es häufig an Sicherheit der Technik und bisweilen sogar an psychologischer Wahrheit der Charaktere gebricht, sondern vielmehr in ihrer eigenartigen, durch vielseitig vertiefte Bildung geläuterten Individualität. Was den denkenden Leser in ihren Schriften am meisten anzieht, ist die Art, wie sie ihr innerstes Wesen in den zahlreich eingestreuten Reflexionen über politische und sociale, pädagogische und religiöse, literarische und philosophische Gegenstände ausspricht. Und diese Excurse zeugen ebensosehr von dem ernsten Nachdenken als von der reichen Lebenserfahrung der Verfasserin. Um Fanni Lewald nach ihrem vollen Werte zu würdigen, darf man sich nicht auf die Lectüre einzelner Romane beschränken, sondern muss seine Aufmerksamkeit ihrem geistigen Entwicklungsprocess znwenden, und diesen darzulegen, soweit der enggezogene Rahmen es gestattet, ist der Zweck der folgenden Skizze.
Fanni Lewald wurde 1811 als das Kind jüdischer Eltern geboren, und schon dieser Umstand ist bedeutsam; denn die erste Entwicklung des Mädchens fällt in die Epoche, da die Juden, zum Theil von dem schweren Drucke befreit, welcher bis dahin auf ihnen gelastet hatte, anfiengen, an dem Geistesleben ihrer Zeit lebhaften Antheil zu nehmen. Es war die Epoche, da Börne und Heine mit unbarmherzigem Spott die Mängel der herrschenden Zustände anfdeckten, während geistvolle jüdische Frauen, wie Henriette Herz, Rachel Levin, Sarah Levy u. a., in ihren Salons alles vereinigten, was Berlin damals an literarischen Berühmtheiten besaß oder auch nur vorübergehend beherbergte. Freilich war es Fanni nicht vergönnt, sich in so erlesenen Kreisen zu bilden; dazu lag ihre Vaterstadt Königsberg zu weit ab von dem Centrum des literarischen Lebens. Auch verlor ihr Vater, ein ursprünglich sehr wohlhabender Mann, bei einem furchtbaren Brande sein ganzes Vermögen, und dieser Verlust nöthigte ihn, viele Jahre hindurch eingeschränkt zu leben. Dennoch bot sich ihr in dem Hause der reichen Oppenheim'schen Familie ein Mittelpunkt glänzender Geselligkeit und eine Quelle reicher geistiger Anregung dar, welche für die Entfaltung ihrer Anlagen von entscheidendem Einfluss wurde. Frühzeitig offenbarte sie eine ungewöhnliche Schärfe und Klarheit des Verstandes, gepaart mit dem lebhaftesten Wissensdrang. Schon als Kind beneidete sie ihre Brüder, die das Gymnasium besuchten, um ihren planvoll geregelten, durch keine lästige Einschränkung behinderten Studiengang; und als ein inspicierender Lehrer gelegentlich die Bemerkung machte, es sei schade, dass ihr talentvoller Kopf nicht auf den Schultern eines Jungen sitze, prägte sich ihr diese Äußerung, die ihren eigenen, heimlich gehegten Kummer aussprach, so tief ein, dass sie sich derselben noch nach vierzig Jahren wörtlich erinnerte. Indessen verhinderte diese ernste Geistesrichtung keineswegs, dass sich gewisse Vorzüge und Schwächen der weiblichen Natur, die miteinander in verborgenem Zusammenhang zu stehen scheinen, in ihr gleichfalls entwickelten. Ungefähr um dieselbe Zeit, da sie als junges Mädchen die Kant'sche „Anthropologie“ mit dem lebhaftesten Interesse und nicht ohne Nutzen las, versetzte sie die zufällig erlauschte Bemerkung eines Studenten, „dass sie schöne Augen und überhaupt Anlagen habe, hübsch zu werden“, in das höchste Entzücken. Auch ihre Fügsamkeit und ihr echt weibliches Bedürfnis, einen fremden Willen über sich anzuerkennen, gieng damals noch so weit, dass sie ihrem Jugendgeliebten entsagte, bloß weil ihr Vater es gebot, und ohne dass dieser nöthig gehabt hätte, ihr Gründe für diesen Befehl anzugeben. Übrigens mag der Umstand, dass sie eben damals mit Zustimmung ihrer Eltern und dem Beispiel ihrer Brüder folgend zum Protestantismus übertrat, ohne doch in dem neuen Glauben mehr Trost und Beruhigung zu finden, als das Judenthum ihr gewährt hatte, nicht wenig dazu beigetragen haben, in ihrem Gemüthe das Gefühl der Unsicherheit und daher das Bedürfnis nach Anlehnung aufrecht zu erhalten. Nur ganz allmählich reifte ihr Charakter zu jener Unabhängigkeit heran, welche der Selbständigkeit ihres scharfen, logischen Denkens entsprach, und mehrfache Reisen nach Berlin und Breslau, die ihren Gesichtskreis erweiterten und ihre Willenskraft durch mancherlei, zum Theil sehr bittere Erlebnisse stählten, bestärkten sie in dieser veränderten Richtung ihres inneren Lebens. Besonders nahm sie nun der sogenannten „Frauenfrage“ gegenüber eine immer entschiedenere Stellung ein, und ihre diesbezüglichen Ansichten, die sie bei jeder Gelegenheit mit der größten Klarheit und Prägnanz, aber auch mit all dem Nachdruck und der Energie einer eifrigen Parteigängerin ausspricht, sind interessant genug und für sie selbst von so hoher Wichtigkeit, dass es sich wohl verlohnt, einen Augenblick dabei zu verweilen. Der Ausgangspunkt ihrer Theorie und das Ziel ihrer praktischen Bestrebungen ist die Forderung nach der Emancipation der Frau zu Arbeit und Erwerb, und ausschließlich von dem Grade, in welchem sie dem Sinne dieser Forderung entsprechen, macht sie den Wert der Institutionen abhängig, welche die Gesellschaft mit Beziehung auf das Weib geschaffen hat. Dass sie unter Anwendung eines solchen Kriteriums an unseren Einrichtungen nicht viel zu loben findet, steht zu erwarten, und in der That unterwirft sie das ganze moderne Leben, soweit die Stellung der Frau in demselben in Frage kommt, einer unbarmherzigen Kritik. Sie tadelt die Erziehung der Mädchen, welche, solange es irgend angeht, an dem Palladium des Nichtwissens festhält, und welche das Weib zur Demuth und Hilfsbedürftigkeit statt zu Selbstgefühl und Hilfsbereitschaft heranzubilden sucht. Sie spottet über die Schranken der sogenannten guten Sitte, die es selbst bei Bürgerstöchtern für unanständig hält, wenn diese auch nur die Freunde des Hauses allein empfangen oder des abends die Straße ohne den Schutz eines Dienstmädchens betreten, und sie spricht mit wahrer Entrüstung davon, dass infolge unserer Einrichtungen die Ehe zu einer bloßen Versorgungsanstalt für die Frau herabgesunken. Ja, es sei so ziemlich die einzige anständige Versorgung für dieselbe und müsse daher nothwendigerweise für sie weit mehr als für den vorzugsweise auf seine Thätigkeit angewiesenen Mann zum Gegenstande niederer Berechnung werden. „Der Mann,“ sagt sie einmal ungefähr, „sucht in der Gesellschaft das Vergnügen, das Mädchen hat man gewöhnt, in ihr unter dem Deckmantel und der Ägide des Vergnügens nur das Ziel aller ihrer Wünsche und Hoffnungen, einen Mann, zu suchen,“ und ein anderesmal lässt sie ihre Ausführungen in der Behauptung gipfeln, diese Zustände hätten den Charakter des weiblichen Geschlechtes im allgemeinen corrumpiert und heruntergebracht. Dass sie in ihren Romanen oft und oft auf Liebe, Ehe und Ehescheidung zu sprechen kommt und diese Fragen unter den mannigfachsten Gesichtspunkten ventiliert, ist bei der Bedeutung des Gegenstandes und dem Interessenkreis der Verfasserin selbstverständlich. Aber wie verschiedenartig die Situationen auch sein mögen, welche ihre Betrachtungen hervorrufen, dieselben sind stets von dem gleichen, scharfen, nach Unabhängigkeit ringenden Geiste erfüllt. Es leuchtet ein, dass sie sich mit solchen Ansichten in dem damaligen, trotz seines beträchtlichen Umfanges noch ziemlich kleinstädtischen Königsberg nicht wohl zu fühlen vermochte; auch lastete die Herrschaft ihrer gutmüthigen aber nervös reizbaren und, wie es scheint, kleinlich beschränkten Mutter und ihres bei aller geistigen Gediegenheit äußerst selbstherrlichen Vaters schwer auf ihr, und auch im Kreise ihrer zum Theil noch sehr jugendlichen Schwestern fand sie das theilnehmende Verständnis nicht, dessen sie bedurfte. Der Kummer über eine heftige, unerwiderte Liebesleidenschaft für ihren Vetter, den in der politischen Bewegung der Folgezeit mehrfach genannten Heinrich Simon kam hinzu, sie ihre Stellung im Elternhause doppelt schwer empfinden zu lassen, und so war, als ihr dreißigster Geburtstag herannahte, die Sehnsucht nach einer durchgreifenden Umgestaltung ihrer inneren und äußeren Existenz in ihrem Gemüth auf das höchste gestiegen. Die Gelegenheit zu einer solchen bot sich ihr in unerwarteter Weise dar. Ihr Vetter August Lewald, der bekannte Redacteur der „Europa“, hatte mehrere ihrer Privatbriefe, soweit diese öffentliche Angelegenheiten besprachen, in seinem damals sehr berühmten Organ abgedruckt, sagte ihr viel Erfreuliches über ihr Talent und forderte sie auf, sich der Schriftstellerei zu widmen. Das war nun freilich nicht eben leicht. Ihr Vater, auf dessen Einwilligung alles ankam, ertheilte dieselbe nicht ohne Zögern und nur unter der Bedingung, dass ihr Name dabei nicht genannt werden sollte, eine Forderung, die er Jahre hindurch aufrecht erhielt, obwohl Fanni durch ihre Anonymität mancher Vortheil entzogen wurde, den ihre raschen literarischen Erfolge ihr sonst gewährt hätten. Auch stellte sie selbst, die ihren Geschmack an der Lectüre classischer Meisterwerke geschult hatte, die unmöglichsten Ansprüche an ihre Leistungen, so dass die letzteren ihr lange keine Befriedigung zu gewähren vermochten. Erst als ihre „Clementine“ und „Jenny“ in den weitesten Kreisen Beifall fanden und sie mit dem ansehnlichen Honorar, das sie für diese und spätere Werke empfieng, auch ihre materielle Unabhängigkeit gesichert sah, erkannte sie den vollen Wert ihrer neuen Lage und erschloss ihre Seele einem Glücksgefühl, das ihr bisher fast völlig fremd gewesen. Auf weiten und anregenden Reisen lernte sie nun viele ihrer literarisch hervorragenden Zeitgenossen kennen: Berthold Auerbach, Wilibald Alexis, Theodor Mundt und seine Frau Louise Mühlbach, Barenhagen von der Ense u. s. w., und als sie, einem von Jugend auf sehnsuchtsvoll gehegten Wunsche folgend, eine Reise nach Italien unternahm, fand sie in dem bewährten literarischen Forscher und Biographen Stahr einen liebevollen Gatten und mit ihm das Glück einer Ehe, wie es Frauen von so hervorragender intellectueller Bedeutung selten so rein und schön zutheil zu werden pflegt.
Trotz ihrer inneren Gediegenheit sind die Romane Fanni Lewalds überaus zahlreich, und sie eingehend zu charakterisieren, gebricht es mir natürlich an Raum. Einige flüchtige Bemerkungen aber würden an dieser Stelle ihren Zweck nicht erfüllen, da sie weder die Vorzüge dieser eigenartigen Werke ins rechte Licht zu setzen, noch selbst, was gewöhnlich weit leichter ist, ihre Schwächen bloßzulegen vermöchten.
Ich habe also dem in der Einleitung Gesagten nur noch eines hinzuzufügen, das sich freilich für den aufmerksamen Leser der vorstehenden Skizze von selbst versteht. Man thut Fanni Lewald unrecht, wenn man sie als eine Nachahmerin der George Sand oder irgend eines anderen Autors auffasst. Sie hat überhaupt nicht nachgeahmt, dazu hätte sie sich nie entschlossen, das hätte sie aber auch nie vermocht, denn sie besitzt eine viel zu scharf ausgeprägte Individualität, die sich keiner fremden Form anbequemen kann. Und diese Individualität in ihrem Entwicklungsgange darzustellen, ist der Zweck dieser Zeilen gewesen.
Fried. Hitschmann.