Hitschmann, Friedrich: Literarische Frauenbilder. E. Marlitt. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 48, S.424-426. Wien, 26. November 1893.
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Nur widerstrebend setze ich die Feder an —- aber Gerechtigkeit muss sein. Wenn ich, wie es mein ausgesprochener Vorsatz ist, Ihnen in diesen Skizzen die Physiognomien unserer berühmtesten Schriftstellerinnen zeichnen will, so darf in ihrer Reihe auch das Porträt der Marlitt nicht fehlen. Denn bereits seit Jahrzehnten übt sie auf die Masse des Publicums einen so großen Einfluss aus, und dieser Einfluss wird sich allem Anschein nach auch in Zukunft noch solange geltend machen, dass es Thorheit oder absichtliche Täuschung wäre, wollte ich die „berühmte Frau“ in diesem Zusammenhang völlig ignorieren. Die Statistik der Volksbüchereien weist ziffermäßig nach, dass die Bücher der Marlitt zu den am häufigsten entlehnten geboren, und ich selbst kann diese abstracte Angabe durch ein concretes Beispiel illustrieren. Als ich nämlich in einer reich dotierten Leihbibliothek nach einem Roman der Marlitt verlangte, um für die vorliegende Arbeit Material zu sammeln — der Himmel weiß, dass ich mich ohne diese Veranlassung zu solcher Lectüre schwerlich entschlossen hätte — da fand sich, dass von ihren nur zu zahlreichen Werken auch nicht ein einziges zu haben war, ein Fall, der mir selbst bei unseren vielgelesensten Autoren, wie Dahn, Ebers oder Spielhagen noch nie begegnet ist. Als charakteristischen Zug will ich noch hinzufügen, dass ich in der gleichen Bibliothek eines der gediegensten wissenschaftlichen Werke neuerer Zeit, ich glaube es waren Spencers „Principien der Sociologie“, zum Theil unaufgeschnitten fand, während die Romane der Marlitt im Gegentheil nicht nur völlig zerlesen, sondern sogar unvollständig sind und so von dem wüthenden Angriff Kunde geben, der von Seite übereifriger Leser—innen unablässig auf sie einstürmt. Ich verweile bei dieser außerordentlichen Popularität der Marlitt so unverhältnismäßig lange, zunächst um die Thatsache zu motivieren, dass ich sie neben einer Suttner, Lewald und Eschenbach überhaupt zu behandeln wage, dann aber auch, um auf diese Weise einem natürlichen Bedürfnisse meines Herzens zu genügen. Denn obwohl ich dem vielgeschmähten Stande der Kritiker angehöre, macht es mir doch die größte Freude, von aller Welt und zumal von Damen mir Schönes und Gutes zu berichten, und leider ist die unglaubliche Beliebtheit der Schriftstellerin so ziemlich das Beste, was ich von ihr zu sagen weiß. Übrigens würde vielleicht so mancher Autor, der reich an Schönheiten und arm an Lesern ist, seine inneren Vorzüge gern gegen diesen äußeren, aber schwer ins Gewicht fallenden vertauschen. Welches sind nun aber die Mittel, durch die es der Marlitt gelungen ist, sich eine so imponierende Stellung in der Literatur oder doch auf dem Büchermarkte der Gegenwart zu erringen? Ich will es versuchen, diese Frage zu beantworten.
Da ist vor allem ihre zweifellose, selbst ihren Neidern und Widersachern unanfechtbare Gemeinverständlichkeit hervorzuheben. Denn jede Frau, hätte sie selbst den beschränktesten Hauswirtschaftshorizont, und jeder Backfisch, wäre er auch nicht in einem Pensionat oder einer höheren Töchterschule zur Blüte edler Weiblichkeit herangebildet worden, vermag ihr völlig mühelos zu folgen. Ich beziehe mich dabei nicht auf ihre Art, Verwicklungen zu schaffen oder zu entwirren, überhaupt nicht auf ihre Technik, auf die ich später zurückkommen werde, sondern zunächst auf ihre sprachliche Darstellung. Da ist keine Spur von der bedeutsamen Diction einer Fanni Lewald oder der sinnig andeutenden Weise Maria Ebners. In unermüdlicher Gleichförmigkeit rauscht der Strom ihrer Rede dahin, und seine Flut ist so durchsichtig seicht, dass man die Perlen auf seinem Grunde zu zählen vermöchte, wenn nur überhaupt welche darin vorhanden wären. Der Vergleich hinkt ein wenig, ich weiß es, aber man liest sich eben nicht ungestraft durch ein Dutzend Marlitt'scher Bände hindurch, und da ich letzteres dir zuliebe gethan habe, lieber Leser, so magst du mir dafür wohl auch ein gewagtes Bild verzeihen. Wie familiär die Verfasserin mit dem Publicum umgeht, zeigt auch die Sorglosigkeit, mit der sie ihre Manuscripte geschrieben und Correcturbogen gelesen hat; wenigstens kann ich es mir nur auf solche Weise erklären, wenn sich im Texte Stellen finden wie: „. . . aber über den Plafond hin flog ein hastig auf- und ablaufender Schatten — das war mein Vater;“ ferner: „Die Mumie hat Familie. Das niedliche Ding, das ist dem Doctor von Sassen sein Töchterchen;„ oder gar: „Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.“ rc. Ich bin im allgemeinen ein Freund der Methode, des Autors eigene Worte zu citieren, damit der Leser in den Stand gesetzt werde, sich über die Behauptungen des Kritikers ein auf Autopsie begründetes Urtheil zu bilden. Und wenn dieses Verfahren auch einen gehässigen Anstrich erhält, sobald es sich darum handelt, den Schriftsteller nicht für, sondern gegen sich selbst zeugen zu lassen, so werde ich doch im Folgenden nochmals davon Gebrauch machen müssen, und zwar mit Beziehung auf eine Stelle, welche nicht bloß als stilistisches Curiosum, sondern auch dadurch merkwürdig ist, dass sie uns einen Einblick in die Ideenwelt der Verfasserin eröffnet. Ja, ja! Sie mögen immerhin erstaunen, auch die Marlitt hat Ideen, und vielleicht haben wir sogar in denselben eine zweite Ursache ihrer Volksthümlichkeit zu erblicken. Sie sind nämlich weder neu noch tief und können daher von der großen Masse der Leser mühelos aufgenommen und verdaut werden. In der Regel lassen sie sich, prägnant ausgedrückt, sogar auf einen Gemeinplatz zurückführen, wie z. B. „der Mensch fängt keineswegs erst beim Baron an;“ „auch der Jude ist ein Mensch und verdient eine menschliche Behandlung“; „aller Fanatismus ist von Übel“ — ja in einem unbewachten Augenblick lässt sie sich sogar zur Behauptung hinreißen, „die Orthodoxie führe zum Aberglauben“. Es ist jedoch damit nicht so böse gemeint; es ist überhaupt nichts böse gemeint, was die Marlitt schreibt, am wenigsten ihre Philosophie, von der uns die oben erwähnte Stelle eine Probe geben soll. Sie lautet: „Die alten Herren, die mit einer Hand zarte Blumengestalten pflegten und mit der anderen eiserne Ketten und Panzer um ihr nachfolgendes Geschlecht zu gürten suchten, hätten doch am besten wissen sollen, dass Abart oder Varietät bei ihrem Durchbruch nicht nach dem Gängelband der Gesetze fragt.“ Heiliger Darwin! Was hättest du, der du doch auch etwas von der Sache verstandest, zu dieser Evolutionstheorie gesagt? Eine ähnliche Harmlosigkeit legt die Marlilt auch den anderen Wissenschaften gegenüber an den Tag, obwohl sie mit sichtlicher Vorliebe Gelehrte, zumal Archäologen, wie Doctor von Sassen oder Herrn von Welde, zu Helden ihrer Romane wählt. Jeder Schüler weiß, dass es im Mittelalter zu den Privilegien der Adeligen gehörte, wenn sie der Hand der strafenden Gerechtigkeit verfielen, nur durch das Beil gerichtet werden zu dürfen, während sich der Verbrecher niederen Standes von Galgen und Rad bedroht sah. Die Verfasserin stellt dieses thatsächliche Verhältnis einfach auf den Kopf, denn sie erzählt von einem gestrengen Herrn von Gnadewitz, der für die Unthaten, die er als Raubritter verübte, auf dem Rade habe büßen müssen, und von einem Leibeigenen, der wegen eines Mordes zum Tode durch das Beil verdammt wird. Um aber die Verwirrung der Begriffe voll zu machen, lässt sie das Geschlecht der Gnadewitze, dem alles daran liegen muss, die seinem Ahnherrn angethane Schmach in Vergessenheit zu bringen, zum ewigen Gedenken an jene Ereignisse gar noch ein Rad in sein Wappen aufnehmen; begreife das, wer kann. Die gute Dame macht sich eben von Wissenschaft und Gelehrsamkeit eine gar sonderbare Vorstellung, wie unter anderem auch daraus hervorgeht, dass sie ihre „Goldelse“ in glücklicher Unbefangenheit sagen lässt: „Ich habe schon als kleines Kind die ganze Geschichte des Christenthums gewusst.“ Aber all diese Schnitzer sind unbedeutend im Vergleich mit denen, welche sie auf ihrem eigentlichen, dem psychologischen Gebiete macht. Ich beziehe mich dabei nicht etwa darauf, dass sie gelegentlich von „dem Atom“ einer Banditenseele redet, jedenfalls ein völlig unbeabsichtigter Materialismus, sondern ich meine ihre Art, Charaktere zu schildern, eine Art, die man nur sehr euphemistisch als idealisierend bezeichnen darf, wiewohl gerade in dieser Pseudoidealität ohne Zweifel ein weiterer Grund ihrer Beliebtheit liegt. Ihre Methode ist die einfachste von der Welt: sie begnügt sich nämlich damit, aus die von ihr bevorzugten Gestalten alle erdenklichen Vollkommenheiten zu übertragen, ohne sich dabei im geringsten um Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu kümmern. Typisch in dieser Hinsicht ist der Herr von Claudius im „Heideprinzesschen“, der sich gleich vortrefflich auf Finanzoperationen und Blumencultur, Archäologie, Pferdezucht und Musik versteht. Auch die Heldin dieses Romanes mit ihrer gemachten Naivität, mit ihrem Gemisch von Bildung und Unwissenheit, Thorheit und Tiefsinn, ist eine durch und durch unmögliche Gestalt. Letzteres fällt freilich weniger ins Gewicht, denn an ihren weiblichen Figuren ist der Verfasserin entschieden die äußere Erscheinung die Hauptsache, weshalb denn auch die Beschreibung ihrer Heldin stets mit echt Marlitt'scher Überschwenglichkeit durchgeführt wird. Die Handlung, welche von solchen Charakteren getragen wird, verläuft fast ausnahmslos nach dem folgenden Schema: Das Mädchen verkennt den inneren Wert des Helden, weil er sich unter einer rauhen Außenseite verbirgt, und wendet ihre Neigung womöglich einem Unwürdigen zu, bis sie zuletzt ihren Irrthum einsieht, worauf sich alles in Freude und Wohlgefallen auflöst. Natürlich hat das zarte Herz der Jungfrau von vornherein den wahren Sachverhalt geahnt und ist sich nur über die Natur der eigenen Gefühle nicht klar gewesen, ungefähr wie ich es seinerzeit, ohne die Marlilt zu kennen, in einem Epigramme ausgesprochen habe:
Man hasst, wo man zu lieben meint,
Und liebt da, wo man wähnt zu hassen;
Wie leicht ist das Geheimnis doch
Der Handwerksromanciers zu fassen.
Es bleibt mir nur noch der Technik unserer Schriftstellerin zu gedenken, die, wie man sich leicht vorstellen kann, sehr — nun sagen wir sehr primitiv ist. Es versteht sich von selbst, dass es in ihren Romanen an mehr oder weniger verfallenen Schlössern und geheimnisvollen Documenten, an natürlichen Kindern und unnatürlichen Eltern, Wahnsinnigen mit und ohne Methode, an erschütternden Enthüllungen und schweißtreibenden Situationen nicht gebricht. Und leider ist es ebenso selbstverständlich, dass für einen gewissen Leserkreis all diese Eigenschaften als ebensoviele Vorzüge ins Gewicht fallen. Da ich auf diesen Gegenstand hier nicht näher eingehen kann, verweise ich diesbezüglich auf Eduard Mauthners gelungene Parodie „Das Geheimnis der ledernen Hose“. Ich selbst habe mir in Vorstehendem redlich Mühe gegeben, die Sache ernst zu nehmen und nicht in den parodierenden Ton zu verfallen. Wenn es mir doch nicht überall gelungen sein sollte, so bitte ich freundlichst zu bedenken, dass der vorliegende Fall zu denjenigen gehört, von welchen schon der alte Horaz sagte: Difficile est. satyram non scribere. (Es ist schwer, keine Satyre zu schreiben.)
Friedrich Hitschmann.