Hitschmann, Friedrich: F. Brentano: Das Genie, Vortrag. Leipzig, Duncker und Humblot, 1892. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. V, S. 94-96. Hamburg und Leipzig, 1893.
Online-Version: https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit15109&page=p0094; https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit15109
F. Brentano. Das Genie. Vortrag. Leipzig , Duncker u. Humblot, 1892. 38 S.
In der Bestimmung des Begriffes „Genie“ sieht man sich vor die Fundamentalfrage gestellt, ob es sich von dem Talente nur dem Grade oder auch der Art nach unterscheide. Auch Brentano geht an die Untersuchung dieses Problems. Es ist einleuchtend, daß der geniale Schachspieler, wenn er einen Zug thut, sich von ganz ähnlichen Erwägungen leiten läßt wie der bloße Kenner; nur daß er in höherem Maße als jener die Fähigkeit besitzt, das Eigentümliche der jeweiligen Situation zu durchschauen und die möglichen Konsequenzen jedes Schrittes im voraus zu überblicken. Ähnlich verhält es sich auch mit der Genialität auf wissenschaftlichem Gebiete, indem sich zeigen läßt, daß etwa Archimedes oder Newton, als sie ihre hervorragendsten Entdeckungen machten, unter dem Banne der nämlichen Denkgesetze verfuhren, welchen auch der Vorstellungsverlauf des gewöhnlichen Sterblichen unterworfen ist.
In dem Bereiche der schönen Künste dagegen ist die gleiche Beziehung zwischen Genie undTalent nicht so leicht darzuthun; sprechen sich doch die genialsten Künstler, die man in unserem Falle zweifelsohne als zuverlässige Gewährsmänner gelten lassen muß, dahin aus, sie seien zu ihren Schöpfungen durch jenen geheimnisvollen Einfluß angeregt worden, den man gewöhnlich Inspiration nennt und zu dem das Seelenleben des Normalmenschen kein Analogon darbietet. Dieses Zeugnis gewinnt noch dadurch an Bedeutsamkeit, daß Männer von völlig entgegengesetzter Geistesrichtung wie Goethe und Jean Paul darin übereinstimmen und daß auch aus dem Altertume die gleichen Erscheinungen mehrfach berichtet werden. Auch der Umstand, daß das Genie meist nur auf eine einzelne Kunst oder gar Kunstgattung beschränkt ist, daß es, mit der Gewalt eines Naturinstinktes auftretend, alles Regelzwanges spottet und dennoch viel korrekter arbeitende Talente weitaus überflügelt, scheint dafür zu sprechen, daß es vom Talente spezifisch verschieden sei.
Gleichwohl macht Brentano den Versuch, das Ungewöhnliche durch ein bekanntes Naturgesetz zu erklären; und zu diesem Behufe teilt er die Künste zunächst in solche, welche die Natur unmittelbar nachahmen, wie die Malerei, und in solche, die nur den von ihr dargebotenen Stoff schöpferisch ausgestalten, wie die Dichtkunst. An der ersten Gruppe wird es leicht ersichtlich, wie der nicht geniale Künstler, um sich
die Natur seiner Aufgabe klar zu werden, erst unsicher tastend experimentiert, dann an einer aus anerkannten Meisterwerken abstrahierten Regel seine Stütze sucht und sich schließlich an ein großes Vorbild anlehnt. Für das Genie nun liegt die Sache keineswegs so, daß es, wie manche meinen, alle diese Vorgänge gleichfalls in sich durchmacht, nur ohne sich ihrer bewußt zu werden, sondern für den bevorzugten Geist entfällt dieses ratlose Schwanken gänzlich, da er vermöge des ihm eigentümlichen ästhetischen Feingefühles unmittelbar erkennt, was an den Dingen herausgegriffen und dargestellt werden muß, um es in seiner ästhetischen Bedeutsamkeit zu fassen, das Schöne in der Natur gleichsam konzentriert nachzuschaffen. Diese Ansicht über den Grundcharakter künstlerischer Produktion wird durch die Ausführungen Goethes und Reynolds zugleich erläutert und begründet.
Nachdem das Verhalten des Künstlers zu seinem Stoffe einmal für die erste Gruppe klargelegt ist, fällt es dem Autor leicht zu zeigen, daß auch auf dem Gebiete der schöpferischen Künste ein analoger Sachverhalt vorliegt.
Doch erweist sich freilich hier die Annahme erhöhter ästhetischer Empfänglichkeit als nicht völlig zureichend, da es sich für diese Gruppe in erster Linie nicht um die Auswahl nachzuahmender Naturobjekte, sondern darum handelt, ein Kunstwerk selbst schöpferisch hervorzubringen. Auch die Voraussetzung beschleunigter und vermehrter Phantasiethätigkeit würde hier nicht genügen; denn der Künstler müßte immer noch lange das Dargebotene prüfen, um unter dem vielen Mangelhaften und Unzulänglichen das einzelne Schöne herauszufinden, während im Gegenteile gerade in der Leichtigkeit und Sicherheit der Produktion das charakteristische Merkmal‚ des Genies gelegen ist. Der ästhetische Wert muß also schon dem Vorstellungsmateriale anhaften, das dem Genie zur Verarbeitung zugeführt wird, und die psychologische Erklärung, welche Brentano für diese merkwürdige Thatsache anführt, scheint mir der interessanteste Teil seiner Arbeit zu sein. Er zeigt nämlich, wie eine Vorstellung, an der man Wohlgefallen findet, länger als andere im Bewußtsein festgehalten wird und daher auch leichter als diese später reproduziert werden kann, wie die häufige Wiederkehr gewisser Eindrücke die Apperzeption von ähnlichen Eindrücken erleichtert und wie auf diese Art bei besonders glücklich beanlagten Naturen das gesamte Vorstellungsleben allgemach den Charakter des ästhetisch Wertvollen anzunehmen vermag. Hieraus erklärt sich auch die auffallende Kräftigung gewisser Fähigkeiten, die mit der solchergestalt dominierenden Vorstellungsmasse in Beziehung stehen. Und wir begreifen es beispielsweise vollkommen, daß Mozart als Knabe im stande war, ein schwieriges neunstimmiges Musikstück, das er nur ein einziges Mal gehört hatte, aus dem Gedächtnisse nachzuschreiben, oder daß Dante, in die Lektüre eines interessanten Buches vertieft, es gar nicht gewahr wurde, als der glänzende Zug des römischen Kaisers mit Sang und Klang an ihm vorüberwallte. Auch die Bekenntnisse, die Mozart in einem Briefe über die Art seines eigenen Schaffens macht, stimmen Zug für Zug mit den hier entwickelten Theorien überein. Übrigens, schließt Brentano, hoffe er durch den Nachweis, daß das Genie dem Normalmenschen seinem Wesen nach homogen, und nur durch den Grad seiner Beanlagung von ihm verschieden sei, keineswegs den erhabenen Enthusiasmus, den jedes edle Gemüt den großen Meistern entgegenbringt, zerstört, sondern diese vielmehr als Menschen dem Herzen menschlich näher gebracht zu haben.
F. Hitschmann (Wien).