Hitschmann, Friedrich: Über Begründungen einer Blindenpsychologie von einem Blinden. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. III, S. 388-397. Hamburg und Leipzig, 1892.
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Von Friedrich Hitschmann in Wien.
Nicht ohne Zögern habe ich mich zu der vorliegenden Arbeit entschlossen, weil ich mir keineswegs verhehlte, welche Schwierigkeiten sich der befriedigenden Durchführung einer Blindenpsychologie entgegenstellten.
Die philosophische Forschung hat bisher wenig gethan, dieses Gebiet urbar zu machen, ja die Fachmänner selbst scheinen von der Unmöglichkeit einer systematischen Darstellung der hierher gehörenden Materien überzeugt, wenigstens hat der erste internationale Blindenlehrerkongreß, der 1873 in Wien tagte, von der ursprünglich geplanten Preisausschreibung für das beste Lehrbuch der Blindenpsychologie nach reiflicher Erwägung der Frage Umgang zu nehmen beschlossen. Das Wenige, was an Vorarbeiten über meinen Gegenstand existiert, findet sich verstreut in Zeitschriften, Vorträgen und Broschüren, so daß es schwer zu überblicken und noch schwerer zu sichten und unter einheitliche Gesichtspunkte zusammenzufassen ist. Übrigens sind die meisten dieser Ausführungen im Hinblick auf die Tendenzen der Blindenpädagogik geschrieben, sie beschäftigen sich mit den in Rede stehenden Fragen zunächst unter Berücksichtigung des praktischen Nutzens umd können daher für eine philosophische Behandlung derselben nicht viel mehr als fördernde Einzelheiten und anregende Winke enthalten. Für die nachstehenden Untersuchungen sah ich mich demnach im wesentlichen auf die Daten angewiesen, welche mir ein eifriges Selbststudium an die Hand gab und die ich durch Beobachtung an anderen Blinden nach Thunlichkeit zu ergänzen und zu berichtigen bestrebt war.
Will man meiner Arbeit daraufhin Mangel an wissenschaftlicher Exaktheit und Allgemeingültigkeit der Resultate zum Vorwurf machen, so muß ich es dulden, ja an der letzteren gebricht es ihr schon deshalb, weil ich nur den vollkommen und von Geburt aus Blinden zum Gegenstande meiner Betrachtungen gewählt und all die mannigfachen Modifikationen von vornherein ausgeschlossen habe, welche durch das Erblinden in späteren Jahren, oder durch einen erheblichen Rest des Lichtsinns hervorgerufen zu werden pflegen. Zu meiner Entschuldigung will ich mich übrigens noch darauf berufen, daß sich das Folgende keineswegs für mehr giebt, als für einen tastenden Versuch, dessen höchstes Ziel darin besteht, die Aufmerksamkeit bewährter Forscher auf das bisher so wenig beachtete Gebiet der Blindenpsychologie zu lenken.
Von der Thatsache ausgehend, daß uns die Erkenntnis der Außenwelt ausschließlich durch die Sinne vermittelt wird, gliedert sich die vorliegende Arbeit von selbst in zwei Teile. In dem ersten habe ich die Hauptpunkte aufzuzeigen, in denen sich das Sinnenleben des Blinden von dem des Vollsinnigen unterscheidet, und sodann in dem zweiten zu untersuchen, welchen Einfluß die so veränderten Elemente der sinnlichen Wahrnehmung auf die Ausgestaltung der Denk- und Empfindungsthätigkeit des Blinden ausüben müssen. Volle Zuverlässigkeit werden diese Ausführungen nach dem in der Einleitung Gesagten nur da für sich in Anspruch nehmen dürfen, wo ich in der glücklichen Lage bin, sie durch den Hinweis auf Erfahrungsthatsachen zu verifizieren.
Den weit verbreiteten Irrtum, als ob bei dem Absterben eines Sinnes die anderen von selbst, gleichsam um einen Ausgleich herbeizuführen, mit gesteigerter Schärfe funktionierten, brauche ich an dieser Stelle nicht ausführlich zu bekämpfen. Er entspringt aus der völlig unbegründeten Voraussetzung, daß eine ganz bestimmte Summe geistiger Kraft in dem Menschen vorhanden sei, die, wenn ihr eine Quelle der Äußerung ver schlossen wird, sich mit um so gröfserer Intensität an den Punkten kundgebe, welche ihrem Einfluß noch ausgesetzt geblieben. Ja, mit der gehörigen Folgerichtigkeit durchgeführt, leitete dieser Satz zu der absurden Konsequenz, daß einem Wesen, dem von allen Sinnen etwa bloß der Geschmack erhalten wäre, durch diesen allein annähernd gleichviel Empfindungen vermittelt würden, als den andern durch all‘ ihre gesunden Sinne zusammen. Richtig ist nur, daß infolge steter Übung und besonders durch ungewöhnliche Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf sonst minder beachtete Objekte der sinnlichen Wahrnehmung auch das Wahrnehmungsvermögen als solches beträchtlich gesteigert werden kann.
Hier aber begegnen wir bereits dem ersten und, wie mir scheint, einem hochbedeutsamen Unterschied. Es handelt sich nämlich bei dem Blinden nicht bloß um eine Schärfung seiner gesunden Sinnesorgane schlechtweg, welche, um das Gehör als das markanteste Beispiel herauszugreifen, ihm etwa die Möglichkeit gewährt, da noch etwas zu hören, wo der Sehende einfach nichts mehr hört, sondern er besitzt auch ein bisweilen unglaublich verfeinertes Unterscheidungsvermögen im prägnanten Sinne des Wortes. Daß der Grad von Unterscheidungsfähigkeit für verschiedene Gehörsempfindungen auch in ein und demselben Gehör verschieden sein kann, dafür spricht unter anderem der Bericht eines Ohrenarztes, wonach einer seiner Patienten den Schlag der Uhr nur auf elf Centimeter Entfernung wahrnahm, während er geflüsterte Worte noch auf dreißig Meter Distanz verstand. Dieses augenscheinliche Mißverhältnis kann wohl nur durch die Annahme erklärt werden, daß der Betreffende in der Apperzeption der einen Art von Schallempfindungen einen höheren Grad von Übung besaß. Ich selbst, obgleich die Schärfe meines Gehörs nicht einmal die normale ist, bin im stande, meinem Vorleser auch dann noch zu folgen, wenn Sehende von weit schärferem Gehör das Gelesene nicht mehr aufzufassen vermögen.
Wie wichtig eine solche Fähigkeit für den Orientierungssinn des Lichtlosen sein muß, leuchtet ein. Daß die menschliche Stimme in einem großen oder kleinen, in einem leeren oder mit Geräten überfüllten Raume verschieden klingt, darüber ist sich wohl auch der Vollsinnige ohne sonderliche Mühe klar, aber er dürfte nur selten dahin gelangen, diese und ähnliche Dinge als Gegenstand unmittelbarer Erfahrung wahrzunehmen, weil für ihn keine Nötigung vorliegt, seine Aufmerksamkeit auf dergleichen zu richten. Dem Blinden dagegen wird es nur durch die Verwertung solcher Beobachtungen möglich, jene erstaunliche Sicherheit zu gewinnen, welche ihn etwa in den Stand setzt, weite Strecken in den belebten Straßen einer Grofsstadt ohne Führer zurückzulegen.
Ich will, um die Beispiele für eine, wie mich dünkt, ziemlich klare Sache nicht allzusehr zu häufen, nur noch auf eine Thatsache hinweisen, die man vielfach mit Mißtrauen und Zweifel betrachtet, für deren Richtigkeit ich mich jedoch verbürgen kann. Es handelt sich um ein Experiment, wobei man verschiedenartige Platten auf einen Tisch wirft und von Blinden hierauf bestimmen läßt, nicht bloß welche Form dieselben haben, sondern auch, aus welchem Metall oder welcher Holzart sie bestehen. Dabei mag es nicht ohne Interesse sein zu erfahren, daß die Zahl der richtigen Antworten mit davon abhängt, an welchem Tisch, ja sogar in welchem Zimmer der Versuch vorgenommen wird.
Weit weniger als durch das Gehör scheint mir das geistige Leben des Blinden durch den Tastsinn beeinflußt, dessen Bedeutung im allgemeinen und, wie ich glaube, auch von Fachmännern vielfach überschätzt wird. Der Grund dieses Irrtums liegt wohl in dem Umstande, daß die Tendenz der Blindenerziehung gegenwärtig dahin geht, den Blinden dem Vollsinnigen möglichst ähnlich zu machen. Ich werde später zu zeigen suchen, daß diese Bestrebungen verfehlt sind, da das Seelenleben des Blinden in seiner Entwickelung jenem des Vollsinnigen zwar analog, aber keineswegs mit ihm identisch ist. An dieser Stelle genüge der Hinweis, daß, wenn man mit einem naheliegenden Bilde die Fingerspitzen als die Augen des Blinden bezeichnen will, diese doch als sehr kurzsichtige Augen angesehen werden müssen. In der That können nur Gegenstände von einfacher Form und geringem Umfang durch das Tastgefühl unmittelbar von ihm wahrgenommen werden, während er alle komplizierten Figuren, so weit er sie sich überhaupt vorstellen kann, erst durch die Kombination der durch den Tastsinn vermittelten Elemente gewinnt. Darum kann z. B. die sogenannte Brailleschrift, die auf der verschiedenen Gruppierung von sechs Punkten beruht, viel rascher und leichter gelesen werden, als das in tastbarem Reliefdruck hergestellte lateinische Alphabet.
Freilich ist auch der Tastsinn bei sorgfältiger Pflege eines hohen Grades von Vervollkommnung fähig, die dann meistens auch eine entsprechende Vergrößerung der manuellen Fertig keiten im Gefolge hat. So lernen Blinde ziemlich rasch die verschiedenen Früchte und Blätter, wie auch mannigfache Gegenstände des täglichen Gebrauchs in Thon oder Wachs nachzubilden; ja den Begabteren unter ihnen gelingt dies auch mit relativ kunstvoll verzierten Vasen und in Ausnahmefällen sogar mit Köpfen. Indessen liegt hier nach meinem Dafürhalten weit mehr technische Geschicklichkeit als künstlerische Anschauung und somit eine viel geringere Bereicherung des intellektuellen Lebens vor, als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt sein möchte.
Noch eklatanter zeigt sich dies bei dem kunstgerechtem Zerlegen von Blüten, das unter Zuhilfenahme von Lippen und Zunge von technisch besonders beanlagten Blinden oft mit erstaunlicher Präzision ausgeführt wird.
Daß die Vorstellung des Raumes weit mehr von dem Gehör als von dem Tastsinn abhängt, habe ich schon oben angedeutet, abgesehen davon, daß diese Vorstellung im Geistesleben des Blinden eine viel geringere Rolle spielt als in dem des Sehenden. Der Gedanke vollends, Blinde durch Betasten eines Gesichtes Menschen erkennen oder gar ihre Seelenzustände aus ihrem Mienenspiel erschließen zu lassen, ein Motiv, das zur Erzielung besonderer Effekte ‚mehrfach in Theaterstücken verwendet wurde, ist einfach ein Unding. Der Blinde denkt, soviel mir bekannt ist, Personen überhaupt nicht, indem er sich ihre körperliche Erscheinung vergegenwärtigt, und dies wäre auch völlig unnatürlich, da er sich dieselbe erst bewußt und absichtlich aus den zufällig gegebenen Details seiner Erfahrung konstruieren müßte und auch dann wohl zu einem Abbild gelangte, das dem Original sehr unähnlich wäre; er verknüpft vielmehr die geistige Persönlichkeit, um die es sich handelt, direkt mit dem sinnlichen Moment, das unmittelbar auf ihn einwirkt, also mit der Stimme.
So erklärt es sich, daß der Blinde häufig und bisweilen sogar gegen seine bessere Einsicht in seiner Neigung oder Abneigung durch den angenehmen oder widerwärtigen Klang einer Stimme beeinflußt wird, ganz wie es dem Vollsinnigen mit häßlichen oder schönen Personen zu ergehen pflegt, und ich weiß in dieser Hinsicht keinen charakteristischeren Zug anzuführen als den, welchen Anna Potsch in ihrem feinsinnigen Aufsatz: Der Blinde und seine gesunden Sinne“ berichtet. Ein blindes Mädchen, heißt es dort beläufig, das dem Gesang einer berühmten Künstlerin wiederholt in stiller Andacht gelauscht und sich, ihrer Neigung folgend, die Persönlichkeit der letzteren aufs Schönste idealisiert hatte, rief, als ein Bekannter so grausam war, sie über den schlechten Wandel jener dann aufzuklären, in naivem Schmerze aus: „Wenn diese Stimme lügen konnte, so ist alles Lüge.“
Die gleichfalls in jenem Aufsatz betonte Eigentümlichkeit des Blinden, Personen nach ihrer Sprechweise beschreiben, ihre körperliche Erscheinung gleichsam aus dem Klang ihrer Stimme herausschälen zu wollen, habe auch ich beobachtet, doch muß ich ausdrücklich hinzufügen, daß die so gewonnenen Figuren für mich durchaus nichts Plastisches haben, sondern sich verflüchtigen, sobald ich aufhöre meine Aufmerksamkeit angestrengt auf sie zu konzentrieren. Nur beim Erwachen des Geschlechtstriebes sollen sich auch der Einbildungskraft des Blinden plastische Formen aufdrängen, indes dürfte ein genaueres Studium ergeben, daß auch diese Phantasiegebilde sich von denen des Sehenden wesentlich unterscheiden.
Die letzten Erwägungen gehören bereits dem zweiten Teil meiner Untersuchung an, indem ich mich, wie oben gesagt, mit der Frage zu beschäftigen habe, in welcher Weise der Blinde die Elemente der sinnlichen Wahrnehmung in seinem Denk- und Gefühlsleben verarbeitet. Ich glaube, durch die vorstehenden Ausführungen das Folgende genügend vorbereitet zu haben, um so mehr, als die von mir nicht besprochenen Sinne zwar gleichfalls der Verfeinerung in hohem Grade fähig, sonst aber, soviel ich weiß, bei dem Blinden nicht eigenartig entwickelt sind.
Daß ich mich im Fortgang meiner Untersuchung, noch mehr, als dies bisher geschehen, auf bloße Andeutungen beschränke, erscheint durch Plan und Zweck meiner Arbeit wohl hinreichend motiviert.
Wir haben gesehen, daß die Menge des Materials, das dem Blinden durch seine Sinne vermittelt wird, unverhältnismäßig geringer ist als jenes, das dem Vollsinnigen zu Gebote steht. Abgesehen von jenen Eindrücken, die wie die Farbe ausschließlich durch den Lichtsinn vermittelt werden können und dem Blinden darum völlig verschlossen bleiben müssen, entwickeln sich in seinem Geiste naturgemäß auch jene Gruppen psychischer Phänomene nur dürftig, welche, wenn auch nicht untrennbar mit dem Gesichte verbunden, doch von diesem in wesentlichen Punkten abhängig sind, so daß auf dem normalen Wege eine freie und reiche Entfaltung des intellektuellen Lebens für den Blinden ausgeschlossen scheint.
Wie verhält er sich nun aber gegen die Fülle von Eindrücken, welche ihm durch Gespräch, Lektüre etc. vermittelt werden, und für deren Perzeption seine sinnliche Wahrnehmung ihn gar nicht oder doch nur in unzureichendem Maße vorbereitet? Daß er sich mit ihnen abfindet, beweist der Umstand, daß wir selten oder nie einem Blinden begegnen, der nicht für weit mehr Dinge Interesse und Verständnis besäße, als wozu seine Sinne ihn zu befähigen scheinen. Diese Assimilation des wesentlich Fremden besteht in einem psychischen Vorgang, den ich kurz als das Bilden von Surrogatvorstellungen bezeichnen möchte. Im wesentlichen decken sich diese Surrogatvorstellungen mit dem, was Professor Meinong in seinen Hume-Studien als indirekte Vorstellungen bezeichnet hat. Indessen ziehe ich es im Hinblick auf die Funktion, welche diesen Phänomenen im psychischen Organismus des Blinden zukommt, vor, an dem von mir gewählten und auch von Früheren öfter gebrauchten Terminus festzuhalten, und will versuchen, an einem Beispiel klar zu machen, was ich mir darunter denke. Wenn man den Namen einer bestimmten Stadt, etwa London, aussprechen hört, denkt man, vorausgesetzt, daß man London nicht vor sich liegen oder noch lebhaft in Erinnerung hat, nicht an die vielen Einzelvorstellungen, aus denen logisch genommen dieser Vorstellungskomplex besteht, auch nicht an charakteristische Einzelheiten, wie etwa an die geographisch bestimmte Lage Londons, wie sie uns von der Karte her geläufig ist, sondern all‘ dies tritt erst hervor, wenn wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Gegenstände richten. Für gewöhnlich dagegen operieren wir mit dem Worte London, ohne uns ein auch nur insoweit anschauliches Bild der Stadt zu entwerfen, wobei übrigens diese Unterlassung für den Verlauf unseres Denkens keine nachteiligen Folgen hat. Die Zahl solcher Surrogatvorstellungen nun ist für den Lichtlosen unverhältnismäßig größer als für den Vollsinnigen, und er kommt weit häufiger als jener in die Lage, die so gewonnenen Begriffe gegebenenfalls nur mangelhaft realisieren, das heißt, auf eigentliche Vorstellungen zurückführen zu können. Wenn er, um bei dem früheren Beispiel zu bleiben, die Surrogatvorstellung Stadt in eine wirkliche zu verwandeln strebt, so wird ihm das nur unvollständig gelingen, denn dieser Komplex setzt sich zwar auch für ihn aus dem Geräusch der Wagen, dem Drängen der Passanten, der mit Staub und Rauch erfüllten Atmosphäre und einer Menge ähnlicher Eindrücke zusammen, die beim Durchwandern einer Stadt auf seine Sinne eindringen, und die Einzelheiten mögen ihm sogar mit größerer Lebhaftigkeit und schärfer gesondert entgegentreten als andern, aber das, was für den Sehenden den Kern des Bildes ausmacht, der zusammenfassende Gesichtseindruck fällt für ihn weg, und seine Vorstellung muß daher notwendig unvollständig bleiben. Nebenbei bemerkt, wäre hier der Punkt, an den der Pädagog anzuknüpfen hätte, um den Anforderungen gerecht zu werden, welche aus der eigentümlichen Disposition des Blinden entspringen, denn gerade in den Surrogatvorstellungen liegt der Schwerpunkt seines geistigen Lebens, und von der Freiheit und Raschheit ihres Spieles weit mehr als von seiner Fertigkeit, die ihnen entsprechenden eigentlichen Vorstellungen aufzurufen, hängen die Fortschritte seiner Entwickelung ab. Kommt es doch gar nicht selten vor, daß dem Blinden die Realisierung einer Vorstellung ganz unmöglich bleibt, während ihm ihr Surrogat völlig geläufig ist, so sind die Worte: Licht und Dunkel, Schwarz und Weiß etc. für ihn nicht, wie man vielleicht anzunehmen geneigt wäre, leerer Schall, sondern er kommt ihnen sozusagen nur von der verkehrten Seite bei, indem er sich zunächst ihrer bildlichen Bedeutung bemächtigt, von den lichten Tagen der Kindheit oder von der schwarzen Seele eines Verbrechers spricht. Ja, ich erinnere mich, Blinde mehrfach von hellen und dunklen Tönen reden gehört zu haben, ähnlich wie ja auch in der Malerei von Farbentönen die Rede ist.
Daß ein solches zum großen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von größtem Einflufs sein muß, leuchtet ein. Besonders läßt sich ein solcher Einfluß auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und in der That bestätigt die Erfahrung, daß der Blinde zu den verschiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen Verhältnis steht. Bloß in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Genießen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlich über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Rücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen:
„Im Walde sah ich ein Blümchen steh’n,
Wie Sternlein leuchtend, wie Äuglein schön.“
oder:
„Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.“
Auch auf die poetische Schöpferkraft des Blinden wirkt dieser Umstand lähmend ein, und es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, daß verschiedene Litteraturen zwar mehrere, spät erblindete, aber meines Wissens keinen einzigen von Geburt auf blinden Dichter aufzuweisen haben.
Dagegen sind dem Blinden die Wissenschaften, zumal die abstrakten, leicht zugänglich, wie überhaupt die Durchschnitts intelligenz derjenigen Blinden, welche einer systematischen Ausbildung teilhaft geworden, als eine überraschend hohe bezeichnet werden muß.
Höchlich gefördert wird dies nun auch durch ein vortreffliches Gedächtnis, und zwar ist die außerordentliche Leistungsfähigkeit des letzteren außer der fortgesetzten Übung dieser Geisteskraft wohl auch dem Umstande zuzuschreiben, daß auf den Blinden weit weniger Eindrücke einstürmen, als auf den Sehenden, weshalb sie schärfer ausgeprägt und daher leichter zu reproduzieren sind. Hierbei muß jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die Entwickelung dieser Anlage meistens einseitig erfolgt; so habe ich z. B. selbst ohne sonderliche Mühe an 20000 Verse auswendig gelernt, während ich eine fremde Melodie, auch wenn sie noch so einfach ist, kaum 24 Stunden festzuhalten vermag. Auch habe ich Blinde gekannt, die mit großer Sicherheit an 100 Ziffern aus dem Gedächtnis wiederholen konnten, aber außer stande waren, einen längeren Satz nach einmaligem Vorlesen fehlerlos nachzusprechen, ohne daß als die entscheidende Ursache für dieses auffällige Mißverhältnis Exklusivität des Interesses für ein bestimmtes Wissensgebiet angenommen werden könnte. Schließlich sei noch bemerkt, daß der Blinde mit den künstlichen Stützen, welche die sogenannte Mnemotechnik an die Hand gibt, in der Regel nicht viel anzufangen weiß, vermutlich darum, weil diese auf die psychischen Funktionen des Normalmenschen berechnet ist, von welchen, wie wir gesehen haben, das intellektuelle Leben des Blinden infolge seiner Sonderentwickelung in wesentlichen Punkten abweicht.
Ich glaube im Vorstehenden diejenigen Momente bezeichnet zu haben, von denen eine zu begründende Wissenschaft der Blindenpsychologie auszugehen hätte, und es erübrigt nur noch, meinen bescheidenen Versuch dem Urteil bewährter Forscher zur Berichtigung und Weiterbildung zu empfehlen. Eine solche Weiterbildung scheint mir um so wünschenswerter, als die Anknüpfung an einzelne der hier berührten Thatsachen, wie etwa der er wähnten Surrogatvorstellungen, vielleicht zu allgemein interessanten, psychologischen Aufschlüssen führen könnte und jedes falls die Beleuchtung einer Sonderentwickelung, wie sie der Blinde zweifellos durchmacht, für die Klärung der mannigfachen Vorgänge im Menschengeist überhaupt nicht ohne Wert sein dürfte.