Hitschmann, Friedrich: Über die Prinzipien der Blindenpädagogik. In: Mann, Friedrich (Hrsg.): Pädagogisches Magazin – Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 69. Langensalza 1895.
Online-Version: http://digital.slub-dresden.de/id1687470103/1
Von Friedrich Hitschmann in Wien.
Pädagogisches Magazin. Heft 69. Langensalza, Verlag von Hermann Bayer & Söhne, Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler. 1895.
Trotz der mannigfachen zum Teil überraschend günstigen Erfolge, die man im Laufe unseres Jahrhunderts in der Heranbildang blinder Zöglinge erzielt hat, giebt es noch keine eigentliche Wissenschaft der Blindenpädagogik, ja nicht einmal die Prinzipien, von welchen eine solche auszugehen hätte, sind allgemein anerkannt. Und doch wäre es unzweifelhaft von hohem Wert, wenn das reiche Thatsachenmaterial, welches von den einzelnen Fachmännern in ihrer Praxis gesammelt und durch den befruchtenden Gedankenaustausch auf den Blindenlehrerkongressen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, von berufener Hand einer sorgfältigen, theoretischen Durcharbeitung unterworfen, und so zur Grundlage einer wissenschaftlich systematisierten Blindenpädagogik erhoben würde. Eine solche Arbeit käme nicht bloß den blinden Kindern zn statten, denen sie die Wohlthat einer in sich geschlossenen, durch einheitliche Grundsätze geregelten Erziehung verschaffte, ihre Untersuchungen erwiesen sich in weiterem Verlaufe auch höchst fruchtbar für alle Pädagogik und Psychologie überhaupt, da sich, wie ich fest überzeugt bin, aus den psychischen Phänomenen des Lichtlosen, wenn deselben planmäßig studiert würden, dankenswerte Schlüsse auch auf Manches ziehen ließen, was in dem Seelenleben der Vollsinnigen der Forschung bisher dunkel geblieben ist. Mögen die nachstehenden Betrachtungen, zu denen ich mich um so mehr gedrängt fühle, als ich selbst blind, und demnach in der Lage bin, mich zur Stützung meiner Beobachtungen auf Thatsachen der unmittelbaren inneren Anschauung zu berufen, mögen diese Betrachtungen als ein Versuch angesehen werden, das Interesse der Psychologen auf diese Fragen zu lenken und so vielleicht zu deren endlicher befriedigender Lösung etwas beizutragen.
Der Standpunkt, welchen der Pädagog in der Frage der Menschenbildung überhaupt einzunehmen vermag, ist ein doppelter. Entweder es schwebt ihm ein allgemeines, gleichsam typisches Menschenideal vor, das er nach Kräften in seinem Zögling zu verwirklichen suchen müsse, und dann ist sein Streben vorzugsweise darauf gerichtet, daß die Anlagen des jugendlichen Geistes sich möglichst genau in den Gleisen der durch jenes Ideal zum voraus normierten Entwickelung halten, oder er geht umgekehrt gerade von diesen Anlagen aus, sucht zu erkennen, zu welcher Art der Entwickelung in dem Schüler die natürlichen Tendenzen vorhanden sind und paßt sein Verfahren diesen natürlichen Tendenzen an, um so den Zögling zu dem Höchsten auszubilden, was er mit Hilfe und innerhalb der Schranken seiner Beanlagung zu werden vermag. Wendet man diese beiden entgegengesetzten Prinzipien mit den nötigen Modifikationen auf die Blindenpädagogik an, so sieht man leicht, daß sie für die letztere von ganz besonderer Bedeutung sind.
Fassen wir zunächst den ersten Fall ins Auge. Die erdrückende Mehrzahl der Blindenpädagogen argumentiert folgendermaßen: die Blindheit ist ein Defekt, dessen unheilvolle Wirkung darin besteht, daß er den mit ihm Behafteten einen großen Teil der den anderen Menschen zugänglichen Sinneseindrücke verschließt und ihn so zu seinem Nachteil von dem Normalmenschen unterscheidet. Die Anstrengungen des Heilpädagogen müssen demgemäß in erster Linie darauf gerichtet sein, diese Lücke nach Kräften auszufüllen, den Abstand zwischen dem Blinden und dem Sehenden nach Möglichkeit zu verringern, mit anderen Worten, den Lichtlosen dem Vollsinnigen so ähnlich als möglich zu machen. Wer dagegen von dem zweiten der oben angeführten Gesichtspunkte ausgeht, und sein Hauptaugenmerk auf die eigentümliche Art der geistigen Entwickelung richtet, auf welche die in dem psychischen Organismus des Blinden wirksamen natürlichen Tendenzen hindrängen, gelangt zu völlig anderen Resultaten, indem er fordern muß, daß der Lichtlose nicht dem Sehenden so ähnlich als möglich, sondern in seiner eigenartigen Besonderheit so vollkommen als möglich gemacht werde. Suchen wir diesen Gegensatz konkret zu fassen, so ergiebt sich, daß die Vertreter des ersten Grundsatzes dem Pestalozzischen Anschauungsprinzip auch in der Blindenschule unbedingte Geltung zugestehen, während ihre Gegner, zu deren Ansicht auch ich mich mit voller Überzeugung bekenne, dasselbe zwar nicht geradezu verwerfen, ihm aber in Anbetracht der hier gegebenen exzeptionellen Verhältnisse nur geringe Wichtigkeit beimessen. Es sei mir gestattet, zur Motivierung dieser auf den ersten Blick befremdlichen Behauptung etwas weiter auszuholen.
Anschaulich im prägnanten Sinn des Wortes ist dem Menschen all das, was er sich klar und deutlich vorzustellen vermag, auch wenn es ihm nicht vor Augen steht; und zwar erfolgt die Reproduktion, wie schon der Ausdruck Anschaulichkeit besagt, vorzugsweise auf Grund der durch den Lichtsinn vermittelten Wahrnehmungen. Was bedeutet nun Anschaulichkeit für den Blinden? Offenbar wieder die Möglichkeit, sich einen entfernten Gegenstand klar und deutlich vorzustellen, und zwar, da für ihn die Eindrücke des Auges entfallen, einen Gegenstand, welchen er durch einen der übrigen Sinne wahrgenommen hat. Wer nun Gewicht darauf legt, das Geistesleben des Blinden jenem des Sehenden möglichst anzunähern, dem wird folgerichtig unter diesen Sinnen das Tastgefühl als der wichtigte erscheinen, weil die durch seine Hilfe gewonnenen Eindrücke mit denen, welche durch das Auge vermittelt werden, noch die meiste Übereinstimmung aufweisen, so daß man streng genommen für den Gebrauch der Blindenpädagogik den neuen Terminus der »Antastlichkeit« schaffen sollte. Aber ist denn diese Übereinstimmung zwischen Gesichts- und Tastsinn wirklich eine so weitgehende als man auf den ersten Blick glauben sollte? Nicht bloß das unermeßliche Reich von Licht und Farbe bleibt der tastenden Hand dauernd verschlossen, auch von dem, was körperlich und greifbar ist, giebt die letztere in vielen Fällen gar keine oder doch nur eine sehr unklare Vorstellung.
Zunächst muß hier auf die Größenverhältnisse hingewiesen werden, welche durch den Tastsinn nur da festgestellt zu werden vermögen, wo es sich um Gegenstände handelt, die der Blinde mit der Hand bedecken, oder günstigsten Falls, die er mit ausgebreiteten Armen umspannen kann. Mit dem Worte »Dorf, Stadt, Wiese, Wald« etc., durch deren bloßes Aussprechen dem Sehenden sogleich ein scharf umgrenzter Eindruck des Lichtsinns in die Erinnerung tritt, verbindet der Blinde, was die Ausdehnung betrifft, gar keine, und auch in jeder anderen Hinsicht eine vollkommen unbestimmte, unanschauliche, oder wenn man will, unantastliche Vorstellung. Und wie könnte es auch anders sein? Er mag noch so oft die Mauer eines Hauses, den Boden einer Wiese betastet haben, niemals vermag er doch von sich zu behaupten, er habe diese Gegenstände durch den Tastsinn wahrgenommen, d. h. ein Gesamtbild derselben auf diesem Wege percipiert. Der Versuch, solche Dinge, die sich durch ihre Größenverhältnisse der Wahrnehmung durch den Tastsinn entziehen, durch verkleinernde, bezw. auch vergrößernde Modelle, dem letzteren zugänglich zu machen, bleibt meist von zweifelhaftem Wert. Dieses Verfahren wird sich nur da bewähren, wo es sich darum handelt, die Idee einer bloßen Richtung mitzuteilen, wie denn beispielsweise eine gespannte Schnur recht gut den Lauf eines Flusses und eine Reihe neben einander befindlicher Stecknadelköpfe ebensowohl die Richtung eines Gebirges veranschaulichen kann. Der Fall liegt hier ganz so wie bei den geographischen Zeichnungen sehender Kinder. Freilich reproduziert gegebenenfalls der blinde Schüler ebensowenig als der sehende das Bild der Flüsse und Berge selbst, von denen der Lehrer eben spricht, sondern der eine erinnert sich bloß an die gefärbten Striche, der andere bloß an die Schnüre, welche er gezogen hat. Für den Zweck, den man damit verfolgt, reicht dies auch vollkommen hin; aber eben darum, weil es bei einer solchen Art von Modellen gar nicht darauf abgesehen ist, in dem Zögling eine anschauliche Vorstellung des Urbilds zu erwecken, kommt sie in diesem Zusammenhang für uns auch gar nicht in Betracht. In allen anderen ähnlichen Fällen dagegen wie etwa bei der hundertmal verkleinernden Darstellung eines Hauses, oder der zehnmal vergrößernden eines Insekts, traue ich selbst dem in dieser Hinsicht begabtesten blinden Schüler absolut nicht räumliche Phantasie genug zu, die Rückübersetzung in die wirklichen Ausdehnungsverhältnisse zu bewerkstelligen.
Was endlich den vermeintlichen Paralellismus zwischen Tast- und Gesichtssinn noch mehr verringert, ist der Umstand, daß die ästhetischen Empfindungen, die sich im Gefolge des Tastens einstellen, durchaus nicht mit jenen zusammenfallen, welche das Sehen hervorruft. Was für den Vollsinnigen die Hauptquelle künstlerischen Genusses ist, die lebenswahre Nachbildung der Äußerungen psychischen Lebens durch den Bildhauer – vom Maler ist hier natürlich nicht die Rede – besitzt für den Lichtlosen nicht den geringsten Wert, da er selbstverständlich nie Gelegenheit gehabt hat, die mannigfachen Veränderungen, welche seelische Erregung verschiedener Art in dem menschlichen Angesichte hervorbringt, betastend wahrzunehmen. Andererseits wird der Blinde stark durch gewisse Eigentümlichkeiten beeinflußt, die dem Material der Plastik anhaften; wie denn beispielsweise die Härte, Kälte, Glätte des Marmors sich der tastenden Hand geradezu aufdrängen, während diese Eigenschaften auf das beschauende Auge teils gar keinen, teils nur geringen Eindruck machen. Von solchen Äußerlichkeiten abgesehen, habe ich selbst beim Betasten von Statuen nie ein anderes Vergnügen empfunden, als höchstens die Genugthuung zu konstatieren, daß diese oder jene Stellung der Hand, des Fußes etc., sofern sie mir eben kontrollierbar war, der Wirklichkeit treu nachgebildet sei, und zwar habe ich dergleichen Beobachtungen an guten und schlechten Arbeiten in völlig gleichem Maße gemacht, wobei ich freilich, um ganz genau zu sein, beifügen muß 1. daß mein Formensinn im allgemeinen schwach entwickelt ist und 2. daß sich mir noch keine Gelegenheit bot, Kunstwerke ersten Ranges zu befühlen.
Die Gegner meiner Ansicht mögen wohl für sich anführen, daß der Tastsinn bei sorgfältiger Pflege eines hohen Grades von Verfeinerung fähig ist, und daß somit die Grenze dessen, was mit seiner Hilfe noch wahrgenommen werden kann, sich relativ weit hinausschieben läßt; absolut genommen jedoch bleibt diese Grenze stets eine ungemein enge und so viel Mühe und Zeit man daran wenden mag, dem Blinden auf diesem Wege eine Bildung zu verschaffen, welche der des Sehenden analog ist, so müssen die Erfolge solcher Bestrebungen aus den angeführten Gründen doch stets höchst unvollständig bleiben, und der Lichtlose wäre zu bedauern, wenn keine anderen Mittel zu seiner Ausbildung vorhanden wären. Solche andere Mittel sind vorhanden, doch vermag sie nur der richtig zu würdigen und voll auszunützen, der auf dem zweiten der oben näher bestimmten Standpunkte steht. So lange man der Blindenpädagogik die Aufgabe stellt, sie solle aus dem Zögling gerade das machen, was er am schwersten zu werden vermag, können auch die Resultate, die sie erzielt, nur mäßige sein. Erst wenn man ihre Bestimmung darin erblickt, den Blinden in der Weise zu entwickeln, wie es den ihm eigentümlichen Anlagen entspricht, ganz unbekümmert darum, ob und inwiefern die Ergebnisse der so begründeten Bildung mit jener des Sehenden übereinstimmen, dann erst wird das Streben der Blindenpädagogen mit so glänzenden Erfolgen gekrönt werden, als es ihre in vielen Fällen wahrhaft aufopfernde Hingabe an die Sache ihrer Schützlinge verdient.
Über die Frage, worin im wesentlichen der Unterschied zwischen der Beanlagung des Blinden und des Sehenden besteht, darf ich hier kurz sein, da ich mich an anderer Stelle hierüber so ausführlich ausgesprochen habe, als es mir bei dem Mangel fast aller Vorarbeiten auf diesem Gebiete überhaupt möglich war. Ich habe dort versucht zu zeigen, daß der Blinde nur äußerst selten in Bildern denkt, auch in solchen nicht, welche ihm die Erfahrungen des Tastsinnes an die Hand geben könnten, sondern daß er sich fast immer eigenartiger Surrogatvorstellungen bedient, die so unanschaulich sind, daß sie in dieser Hinsicht an die abstrahierten Begriffe des Sehenden erinnern, mit denen er jedoch gleichwohl so vortrefflich auszukommen vermag, daß er bereits eines sehr geschärften Unterscheidungsvermögens bedarf, wenn er sich dieser eigenartigen Natur seiner Vorstellungen überhaupt bewußt werden soll. Der naive Blinde nimmt die letzteren gleichsam in gutem Glauben, für treue Abbilder der Dinge selbst und bestreitet wohl gar die Thatsache, daß sie bloße Surrogate sind. Nebenbei bemerkt, mag dieser Umstand es erklären, daß das in Rede stehende, wichtige psychische Phänomen selbst in Fachkreisen noch nicht allgemein bekannt und noch weniger gebührend beachtet ist. Zugleich aber liefert die Festigkeit, mit welcher der in philosophischen Unterscheidungen ungeübte Blinde an die Abbildlichkeit, oder wenn ich so sagen darf, an die Leibhaftigkeit seiner Vorstellung glaubt, einen zuverlässigen Beweis dafür, daß sich diese Surrogate den Anforderungen des praktischen Lebens gegenüber vollkommen brauchbar und ausreichend zeigen, und daß demnach auch der Pädagog berechtigt ist, sie unbedenklich zur Grundlage seines Systems zu machen. Im einzelnen auszuführen, wie dieses System sich auf solcher Grundlage gestalten müsse, ist eine Anfgabe, die, selbst wenn sie sich a priori lösen ließe, doch den Rahmen der vorliegenden Arbeit weitaus überschritte. Nur einige Bemerkungen allgemeiner Natur mögen hier ihre Stelle finden.
Es leuchtet ein, daß man unter dem angedeuteten Gesichtspunkt auf die Anschaulichkeit der durch den Unterricht vermittelten Vorstellungen nur geringes Gewicht zu legen hat. Freilich halte auch ich es für notwendig, daß die letzte Basis alles Denkens eine konkrete sei. Aber diesen Grundstock an konkreten Vorstellungen bietet die tägliche Erfahrung ganz von selbst, oder wenigstens ist es ausreichend, die Erweiterung dieser unerläßlichen Grundlagen bloß gelegentlich, besonders wenn es sich um die Anfangsgründe eines Unterrichtsgegenstandes handelt, eintreten zu lassen. Die ungeheure Ersparnis an Zeit und Mühe, welche man auf diese Art erzielt, verwende man dazu, dem Blinden eine um so größere Fülle von Vorstellungen zuzuführen, und wenn dies nur in zweckmäßiger, der jeweiligen Fassungskraft des Schülers angepaßter Weise geschieht, mag man es dem letzteren getrost überlassen, sich mit diesen neuen Vorstellungen in seiner Weise abzufinden. Das vortreffliche Gedächtnis des Lichtlosen setzt ihn in den Stand, weit größere Mengen von Eindrücken in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, als dem Sehenden unter gleichen Umständen möglich wäre, und wenn man zudem der Thätigkeit dieses Gedächtnisses durch Regel und planmäßige Wiederholung zu Hilfe kommt, so sehe ich nicht, was für Hindernisse sich der Durchführung der von mir empfohlenen Methode entgegenstellen sollten. Die Vorteile dagegen, welche dieselbe bietet, sind augenscheinlich. Sie befriedigt zunächst in reicherem Maße die Wißbegierde, welche überall da, wo sie nicht unter dem Eintluß besonders ungünstiger Verhältnisse verkümmert ist, einen charakteristischen Zug im Wesen des Blinden bildet; sie erleichtert dem letzteren ferner das Verständnis für zahlreiche Vorgänge und Erscheinungen der Außenwelt und sogar den Verkehr mit seinen vollsinnigen Mitmenschen, denn er wird sich, wie gesagt, nur der Vorstellungsinhalte bewußt, die er mit diesem gemein hat, nicht aber des fundamentalen Unterschiedes, die zwischen seiner Art des Vorstellens und jener des Sehenden besteht.
Fassen wir endlich noch die sittliche Seite der Frage ins Auge, – denn auch nach dieser Richtung hin erweist sich die geschilderte Methode wirksam. Wem die ganze, reiche, sichtbare Welt verschlossen ist, dessen gesamte geistige Kraft konzentriert sich auf eine relativ geringe Zahl von Objekten, und die Intensität seines Seelenlebens wird dadurch wesentlich erhöht. Wird nun dieser Kraft durch reichliche intellektuelle Zufuhr ein Substrat geboten, an dem sie sich in geeigneter Weise zu äußern vermag, so ist ihre Bethätigung eine höchst wohlthätige. In der That habe ich oft Gelegenheit gehabt zu beobachten, daß Blinde, welche durch Lektüre, durch Verkehr mit gebildeten Menschen etc. in fortgesetzter Anregung erhalten wurden,
sich nicht bloß zu einem hohen Grad von Intelligenz. entwickelten, sondern auch ihrem Charakter eine Stetigkeit und ein harmonisches Gleichmaß verliehen, die in moralischer Hinsicht in hohem Grade wünschens- und schätzenswert sind. Wo dagegen ein solcher den innersten Bedürfnissen des Lichtlosen entsprechender Zufluß von Vorstellungen fehlt, erstirbt diese innere Kraft entweder in Stumpfsinn und Apathie, oder es entsteht, was ebenso schlimm ist, eine aufgeregte Spannung, eine Sehnsucht ohne Ziel, mit einem Wort, jener unnatürliche Zustand, welchen schon der alte seelenkundige Logau kannte, und den er in seiner eigentümlichen Art in den Versen charakterisierte:
Ein Mühlstein und ein Menschenherz
Sind stetig umgetrieben,
Wenn beides nichts zu reiben hat,
Wird beides selbst gerieben.
Ich habe im Vorstehenden den Versuch gemacht, zu zeigen, daß sich auch auf Grundlage meiner, von den in Fachkreisen herrschenden Ansichten in wichtigen Punkten abweichenden Auffassung ein System der Blindenpädagogik errichten ließe und daß dieses System vor den heute in der Praxis geltenden Grundsätzen sogar manchen Vorteil böte. In der Form, in welcher ich meine Ansichten hier ausgesprochen, kommt denselben, ich weiß es wohl, nur der Wert einer subjektiven Überzeugung zu, wenngleich jener Wert vielleicht dadurch erhöht wird, daß ich mir diese Überzeugung, wie gesagt, auf Grund eingehender planmäßiger Selbstbeobachtungen gebildet habe. Mag übrigens die Frage zuletzt in welchem Sinne immer entschieden werden, der Zweck der vorliegenden bescheidenen Arbeit ist bereits erreicht, wenn es ihrem Verfasser gelingen sollte, die Diskussion des Themas anzuregen und auf diesem Wege die endliche Systematisierung der Blindenpädagogik, das heißt ihre Ausgestaltung zur Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes anbahnen zu helfen.
Druck von Hermann Beyer & Söhne in Langensalza.