Friedrich Hitschmann

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 +Hitschmann, Friedrich: Über Begründungen einer Blindenpsychologie von einem Blinden. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. III, S. 388-397. Hamburg und Leipzig, 1892.
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 +Online-Version: [[https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit14903&page=p0388|https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit14903&page=p0388]]; [[https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit14903|https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit14903]]
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 ====== Über Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. ====== ====== Über Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. ======
  
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 Wir haben gesehen, daß die Menge des Materials, das dem Blinden durch seine Sinne vermittelt wird, unverhältnismäßig geringer ist als jenes, das dem Vollsinnigen zu Gebote steht. Abgesehen von jenen Eindrücken, die wie die Farbe ausschließlich durch den Lichtsinn vermittelt werden können und dem Blinden darum völlig verschlossen bleiben müssen, entwickeln sich in seinem Geiste naturgemäß auch jene Gruppen psychischer Phänomene nur dürftig, welche, wenn auch nicht untrennbar mit dem Gesichte verbunden, doch von diesem in wesentlichen Punkten abhängig sind, so daß auf dem normalen Wege eine freie und reiche Entfaltung des intellektuellen Lebens für den Blinden ausgeschlossen scheint. Wir haben gesehen, daß die Menge des Materials, das dem Blinden durch seine Sinne vermittelt wird, unverhältnismäßig geringer ist als jenes, das dem Vollsinnigen zu Gebote steht. Abgesehen von jenen Eindrücken, die wie die Farbe ausschließlich durch den Lichtsinn vermittelt werden können und dem Blinden darum völlig verschlossen bleiben müssen, entwickeln sich in seinem Geiste naturgemäß auch jene Gruppen psychischer Phänomene nur dürftig, welche, wenn auch nicht untrennbar mit dem Gesichte verbunden, doch von diesem in wesentlichen Punkten abhängig sind, so daß auf dem normalen Wege eine freie und reiche Entfaltung des intellektuellen Lebens für den Blinden ausgeschlossen scheint.
  
-Wie verhält er sich nun aber gegen die Fülle von Eindrücken, welche ihm durch Gespräch, Lektüre etc. vermittelt werden, und für deren Perzeption seine sinnliche Wahrnehmung ihn gar nicht oder doch nur in unzureichendem Maße vorbereitet? Daß er sich mit ihnen abfindet, beweist der Umstand, daß wir selten oder nie einem Blinden begegnen, der nicht für weit mehr Dinge Interesse und Verständnis besäße, als wozu seine Sinne ihn zu befähigen scheinen. Diese Assimilation des wesentlich Fremden besteht in einem psychischen Vorgang, den ich kurz als das Bilden von Surrogatvorstellungen bezeichnen möchte. Im wesentlichen decken sich diese Surrogatvorstellungen mit dem, was Professor Meinong in seinen Hume-Studien als indirekte Vorstellungen bezeichnet hat. Indessen ziehe ich es im Hinblick auf die Funktion, welche diesen Phänomenen im psychischen Organismus des Blinden zukommt, vor, an dem von mir gewählten und auch von Früheren öfter gebrauchten Terminus festzuhalten, und will versuchen, an einem Beispiel klar zu machen, was ich mir da runter denke. Wenn man den Namen einer bestimmten Stadt, etwa London, aussprechen hört, denkt man, vorausgesetzt, daß man London nicht vor sich liegen oder noch lebhaft in Erinnerung hat, nicht an die vielen Einzelvorstellungen, aus denen logisch genommen dieser Vorstellungskomplex besteht, auch nicht an charakteristische Einzelheiten, wie etwa an die geographisch bestimmte Lage Londons, wie sie uns von der Karte her geläufig ist, sondern all‘ dies tritt erst hervor, wenn wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Gegenstände richten. Für gewöhnlich dagegen operieren wir mit dem Worte London, ohne uns ein auch nur insoweit anschauliches Bild der Stadt zu entwerfen, wobei übrigens diese Unterlassung für den Verlauf unseres Denkens keine nachteiligen Folgen hat. Die Zahl solcher Surrogatvorstellungen nun ist für den Lichtlosen unverhältnismäßig größer als für den Vollsinnigen, und er kommt weit häufiger als jener in die Lage, die so gewonnenen Begriffe gegebenenfalls nur mangelhaft realisieren, das heißt, auf eigentliche Vorstellungen zurückführen zu können. Wenn er, um bei dem früheren Beispiel zu bleiben, die Surrogatvorstellung Stadt in eine wirkliche zu verwandeln strebt, so wird ihm das nur unvollständig gelingen, denn dieser Komplex setzt sich zwar auch für ihn aus dem Geräusch der Wagen, dem Drängen der Passanten, der mit Staub und Rauch erfüllten Atmosphäre und einer Menge ähnlicher Eindrücke zusammen, die beim Durchwandern einer Stadt auf seine Sinne eindringen, und die Einzelheiten mögen ihm sogar mit größerer Lebhaftigkeit und schärfer gesondert entgegentreten als andern, aber das, was für den Sehenden den Kern des Bildes ausmacht, der zusammenfassende Gesichtseindruck fällt für ihn weg, und seine Vorstellung muß daher notwendig unvollständig bleiben. Nebenbei bemerkt, wäre hier der Punkt, an den der Pädagog anzuknüpfen hätte, um den Anforderungen gerecht zu werden, welche aus der eigentümlichen Disposition des Blinden entspringen, denn gerade in den Surrogatvorstellungen liegt der Schwerpunkt seines geistigen Lebens, und von der Freiheit und Raschheit ihres Spieles weit mehr als von seiner Fertigkeit, die ihnen entsprechenden eigentlichen Vorstellungen aufzurufen, hängen die Fortschritte seiner Entwickelung ab. Kommt es doch gar nicht selten vor, daß dem Blinden die Realisierung einer Vorstellung ganz unmöglich bleibt, während ihm ihr Surrogat völlig geläufig ist, so sind die Worte: Licht und Dunkel, Schwarz und Weiß etc. für ihn nicht, wie man vielleicht anzunehmen geneigt wäre, leerer Schall, sondern er kommt ihnen sozusagen nur von der verkehrten Seite bei, indem er sich zunächst ihrer bildlichen Bedeutung bemächtigt, von den lichten Tagen der Kindheit oder von der schwarzen Seele eines Verbrechers spricht. Ja, ich erinnere mich, Blinde mehrfach von hellen und dunklen Tönen reden gehört zu haben, ähnlich wie ja auch in der Malerei von Farbentönen die Rede ist.+Wie verhält er sich nun aber gegen die Fülle von Eindrücken, welche ihm durch Gespräch, Lektüre etc. vermittelt werden, und für deren Perzeption seine sinnliche Wahrnehmung ihn gar nicht oder doch nur in unzureichendem Maße vorbereitet? Daß er sich mit ihnen abfindet, beweist der Umstand, daß wir selten oder nie einem Blinden begegnen, der nicht für weit mehr Dinge Interesse und Verständnis besäße, als wozu seine Sinne ihn zu befähigen scheinen. Diese Assimilation des wesentlich Fremden besteht in einem psychischen Vorgang, den ich kurz als das Bilden von Surrogatvorstellungen bezeichnen möchte. Im wesentlichen decken sich diese Surrogatvorstellungen mit dem, was Professor Meinong in seinen Hume-Studien als indirekte Vorstellungen bezeichnet hat. Indessen ziehe ich es im Hinblick auf die Funktion, welche diesen Phänomenen im psychischen Organismus des Blinden zukommt, vor, an dem von mir gewählten und auch von Früheren öfter gebrauchten Terminus festzuhalten, und will versuchen, an einem Beispiel klar zu machen, was ich mir darunter denke. Wenn man den Namen einer bestimmten Stadt, etwa London, aussprechen hört, denkt man, vorausgesetzt, daß man London nicht vor sich liegen oder noch lebhaft in Erinnerung hat, nicht an die vielen Einzelvorstellungen, aus denen logisch genommen dieser Vorstellungskomplex besteht, auch nicht an charakteristische Einzelheiten, wie etwa an die geographisch bestimmte Lage Londons, wie sie uns von der Karte her geläufig ist, sondern all‘ dies tritt erst hervor, wenn wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Gegenstände richten. Für gewöhnlich dagegen operieren wir mit dem Worte London, ohne uns ein auch nur insoweit anschauliches Bild der Stadt zu entwerfen, wobei übrigens diese Unterlassung für den Verlauf unseres Denkens keine nachteiligen Folgen hat. Die Zahl solcher Surrogatvorstellungen nun ist für den Lichtlosen unverhältnismäßig größer als für den Vollsinnigen, und er kommt weit häufiger als jener in die Lage, die so gewonnenen Begriffe gegebenenfalls nur mangelhaft realisieren, das heißt, auf eigentliche Vorstellungen zurückführen zu können. Wenn er, um bei dem früheren Beispiel zu bleiben, die Surrogatvorstellung Stadt in eine wirkliche zu verwandeln strebt, so wird ihm das nur unvollständig gelingen, denn dieser Komplex setzt sich zwar auch für ihn aus dem Geräusch der Wagen, dem Drängen der Passanten, der mit Staub und Rauch erfüllten Atmosphäre und einer Menge ähnlicher Eindrücke zusammen, die beim Durchwandern einer Stadt auf seine Sinne eindringen, und die Einzelheiten mögen ihm sogar mit größerer Lebhaftigkeit und schärfer gesondert entgegentreten als andern, aber das, was für den Sehenden den Kern des Bildes ausmacht, der zusammenfassende Gesichtseindruck fällt für ihn weg, und seine Vorstellung muß daher notwendig unvollständig bleiben. Nebenbei bemerkt, wäre hier der Punkt, an den der Pädagog anzuknüpfen hätte, um den Anforderungen gerecht zu werden, welche aus der eigentümlichen Disposition des Blinden entspringen, denn gerade in den Surrogatvorstellungen liegt der Schwerpunkt seines geistigen Lebens, und von der Freiheit und Raschheit ihres Spieles weit mehr als von seiner Fertigkeit, die ihnen entsprechenden eigentlichen Vorstellungen aufzurufen, hängen die Fortschritte seiner Entwickelung ab. Kommt es doch gar nicht selten vor, daß dem Blinden die Realisierung einer Vorstellung ganz unmöglich bleibt, während ihm ihr Surrogat völlig geläufig ist, so sind die Worte: Licht und Dunkel, Schwarz und Weiß etc. für ihn nicht, wie man vielleicht anzunehmen geneigt wäre, leerer Schall, sondern er kommt ihnen sozusagen nur von der verkehrten Seite bei, indem er sich zunächst ihrer bildlichen Bedeutung bemächtigt, von den lichten Tagen der Kindheit oder von der schwarzen Seele eines Verbrechers spricht. Ja, ich erinnere mich, Blinde mehrfach von hellen und dunklen Tönen reden gehört zu haben, ähnlich wie ja auch in der Malerei von Farbentönen die Rede ist.
  
 Daß ein solches zum großen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von größtem Einflufs sein muß, leuchtet ein. Besonders läßt sich ein solcher Einfluß auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und in der That bestätigt die Erfahrung, daß der Blinde zu den verschiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen Verhältnis steht. Bloß in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Genießen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlich über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Rücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen: Daß ein solches zum großen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von größtem Einflufs sein muß, leuchtet ein. Besonders läßt sich ein solcher Einfluß auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und in der That bestätigt die Erfahrung, daß der Blinde zu den verschiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen Verhältnis steht. Bloß in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Genießen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlich über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Rücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen:
friedrich_hitschmann_-_ueber_begruendung_einer_blindenpsychologie_von_einem_blinden.1583622351.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/03/07 23:05 von Daniel Schönfeld

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