Friedrich Hitschmann

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 +Hitschmann, Friedrich: Über Begründungen einer Blindenpsychologie von einem Blinden. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. III, S. 388-397. Hamburg und Leipzig, 1892.
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 +Online-Version: [[https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit14903&page=p0388|https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit14903&page=p0388]]; [[https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit14903|https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit14903]]
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 ====== Über Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. ====== ====== Über Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. ======
  
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 Daß ein solches zum großen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von größtem Einflufs sein muß, leuchtet ein. Besonders läßt sich ein solcher Einfluß auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und in der That bestätigt die Erfahrung, daß der Blinde zu den verschiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen Verhältnis steht. Bloß in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Genießen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlich über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Rücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen: Daß ein solches zum großen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von größtem Einflufs sein muß, leuchtet ein. Besonders läßt sich ein solcher Einfluß auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und in der That bestätigt die Erfahrung, daß der Blinde zu den verschiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen Verhältnis steht. Bloß in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Genießen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlich über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu genießen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Rücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen:
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 „Im Walde sah ich ein Blümchen steh’n,\\ „Im Walde sah ich ein Blümchen steh’n,\\
 Wie Sternlein leuchtend, wie Äuglein schön.“ Wie Sternlein leuchtend, wie Äuglein schön.“
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 „Füllest wieder Busch und Thal\\ „Füllest wieder Busch und Thal\\
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 Lösest endlich auch einmal\\ Lösest endlich auch einmal\\
 Meine Seele ganz.“ Meine Seele ganz.“
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 Auch auf die poetische Schöpferkraft des Blinden wirkt dieser Umstand lähmend ein, und es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, daß verschiedene Litteraturen zwar mehrere, spät erblindete, aber meines Wissens keinen einzigen von Geburt auf blinden Dichter aufzuweisen haben. Auch auf die poetische Schöpferkraft des Blinden wirkt dieser Umstand lähmend ein, und es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, daß verschiedene Litteraturen zwar mehrere, spät erblindete, aber meines Wissens keinen einzigen von Geburt auf blinden Dichter aufzuweisen haben.
friedrich_hitschmann_-_ueber_begruendung_einer_blindenpsychologie_von_einem_blinden.1583680402.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/03/08 15:13 von Daniel Schönfeld

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