Friedrich Hitschmann

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-===== Der Blinde und die Kunst. =====+<blockquote> 
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 +Hitschmann, Friedrich: Der Blinde und die Kunst. In: Avenarius, Richard (Hrsg.): Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie. Bd. XVII, 3, S. 312-329. Leipzig, 1893. 
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 +Online-Version: [[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94144p/f4.image|https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94144p/f4.image]] (S. 312) 
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 +====== Der Blinde und die Kunst. ======
  
 Das Verhältniss des Menschen zur Kunst, welches von jeher eines der interessantesten Probleme philosophischer Forschung ausgemacht hat, weil es mit den fundamentalsten Fragen der Psychologie in unlösbarem Zusammenhänge steht, ist, meiner Ansicht nach, mit Beziehung auf den Blinden von ganz besonderer Wichtigkeit. Denn er, dessen Aufmerksamkeit weit weniger als jene des Vollsinnigen von den mannigfaltigen Erscheinungen der buntbewegten Aussenwelt in Anspruch genommen wird, und dem es daher vergönnt ist, sich um so rückhaltsloser dem Zauber hinzugeben, welchen die Kunst auf jedes menschliche Gemüth ausübt, er muss durch dieses bedeutsame Moment auch in weit höherem Grade als Andere in seiner psychischen Entwickelung beeinflusst werden, ganz abgesehen davon, dass die gesteigerte Intensität seines Innenlebens jedem Eindruck von vornherein grössere Lebhaftigkeit und dauerndere Nachwirkung sichert, als ihm bei dem Normalmenschen zukommt. in Anbetracht dieser hervorragenden Bedeutung der Kunst als Bildungselement für das Wesen des Blinden habe ich mir erlaubt, unter Verwerthung eigener und fremder Erfahrungen eine Gruppe von Thatsachen zusammenzustellen, die sich auf das ästhetische Leben des Blinden beziehen. Dabei hebe ich natürlich nur dasjenige hervor, was sich aus der Natur der Blindheit als solcher mit Nothwendigkeit zu ergeben scheint, weil nur das als Schlüssel zu den Eigenthümlichkeiten des Lichtlosen von Werth sein kann. Das Verhältniss des Menschen zur Kunst, welches von jeher eines der interessantesten Probleme philosophischer Forschung ausgemacht hat, weil es mit den fundamentalsten Fragen der Psychologie in unlösbarem Zusammenhänge steht, ist, meiner Ansicht nach, mit Beziehung auf den Blinden von ganz besonderer Wichtigkeit. Denn er, dessen Aufmerksamkeit weit weniger als jene des Vollsinnigen von den mannigfaltigen Erscheinungen der buntbewegten Aussenwelt in Anspruch genommen wird, und dem es daher vergönnt ist, sich um so rückhaltsloser dem Zauber hinzugeben, welchen die Kunst auf jedes menschliche Gemüth ausübt, er muss durch dieses bedeutsame Moment auch in weit höherem Grade als Andere in seiner psychischen Entwickelung beeinflusst werden, ganz abgesehen davon, dass die gesteigerte Intensität seines Innenlebens jedem Eindruck von vornherein grössere Lebhaftigkeit und dauerndere Nachwirkung sichert, als ihm bei dem Normalmenschen zukommt. in Anbetracht dieser hervorragenden Bedeutung der Kunst als Bildungselement für das Wesen des Blinden habe ich mir erlaubt, unter Verwerthung eigener und fremder Erfahrungen eine Gruppe von Thatsachen zusammenzustellen, die sich auf das ästhetische Leben des Blinden beziehen. Dabei hebe ich natürlich nur dasjenige hervor, was sich aus der Natur der Blindheit als solcher mit Nothwendigkeit zu ergeben scheint, weil nur das als Schlüssel zu den Eigenthümlichkeiten des Lichtlosen von Werth sein kann.
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 Von den bildenden Künsten muss ich in diesem Zusammenhänge vollständig absehen; denn wie ich schon an anderer Stelle zu zeigen versuchte, mögen zwar manche ihrer Gebilde den Vorslellungskreis des Blinden erweitern helfen, bieten aber wegen der engen Schranken, welche der Leistungsfähigkeit des Tastsinns gezogen sind, absolut kein Material für eine eigentlich künstlerische Anschauung dar. Auch über die Musik darf ich mich hier kurz fassen. Denn da dieselbe das Augenlicht nicht direcl und auch indirect nur in den seltensten Fällen voraussetzt, so ist das Verhältniss, welches der Sehende und der Blinde zu ihr einnimmt, im Wesentlichen das gleiche. Der Blinde mag, vermöge seiner eigenthümlichen Disposition, eine regere Empfänglichkeit für den Reiz musikalischer Werke und ein besonderes Talent für die Ausübung der Musik an den Tag legen, wohl auch in seiner Technik beim Spiel der verschiedenen Instrumente von jener des Vollsinnigen in mancher Hinsicht abweichen; aber ein durchgreifender charakteristischer Unterschied ist meines Wissens hier nicht zu constatiren. Nur beiläufig will ich bemerken, dass ich mich der gelegentlich von Fachmännern ausgesprochenen Ansicht, der Blinde als solcher sei ausser Stande ein musikalisches Kunstwerk zu schaffen, keineswegs anschliessen kann, wenn wir auch aus naheliegenden Gründen zur Zeil noch keinen grossen, blinden Componisten aufzuweisen haben. — Eingehender werden wir unsere Aufmerksamkeit der Betrachtung der Poesie zuwenden müssen, die zwischen den ausschliesslich im Raume wirkenden bildenden Künsten und der Musik, als der sozusagen raumlosen Kunst, in der Mitte liegt. Ihr steht darum der Blinde auch nicht fremd gegenüber, wie etwa der Malerei, aber er vermag sie auch nicht ganz so aufzufassen wie der Sehende, wie das bei der Musik der Fall ist, sondern er hat zu ihr zwar eine intime Beziehung, welche jedoch durch den Mangel des Lichtsinns mannigfache Modificationen erfährt. Diese Modificationen sind verschieden bei den verschiedenen Dichtungsgattungen, und zwar scheint mir für ihre Abstufung in erster Linie der folgende Gesichtspunkt maassgebend zu sein. Es ist die Hauptaufgabe der Poesie, Stimmungen und Leidenschaften, Schicksale und Charaktere, mit einem Wort das Psychische in seinen mannigfaltigen Erscheinungen und Beziehungen darzustellen, und so weit sie das unmittelbar thut, ist der Blinde, von dem man mit dem Dichter sagen kann, dass er „mit leichtbeweglichem Gefühl den Geist in seiner flüchtigsten Erscheinung hascht“, voll und ganz im Stande, sich ihrem Genusse hinzugeben; dort dagegen, wo die Poesie das Hauptgewicht auf die Schilderung der Aussenwelt und die Darstellung dessen legt, was man mit einem neuen Wort für eine alte Sache als „milieu“ bezeichnet, dort sieht er sich darauf angewiesen, Surrogatvorstellungen zu bilden, was natürlich die Wirkung beeinträchtigt. Indessen werden diese Surrogate, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, dem Lichtlosen oft in erstaunlich hohem Grad geläufig, und um darzuthun, wie sich dies auch auf dem Gebiet der Poesie äussert, will ich mir erlauben, hier ein Gedicht einzuschalten, welches, obwohl es von einem Blinden herrührt, doch eine Reihe glücklicher Bilder aus der Welt der Farben enthält: Von den bildenden Künsten muss ich in diesem Zusammenhänge vollständig absehen; denn wie ich schon an anderer Stelle zu zeigen versuchte, mögen zwar manche ihrer Gebilde den Vorslellungskreis des Blinden erweitern helfen, bieten aber wegen der engen Schranken, welche der Leistungsfähigkeit des Tastsinns gezogen sind, absolut kein Material für eine eigentlich künstlerische Anschauung dar. Auch über die Musik darf ich mich hier kurz fassen. Denn da dieselbe das Augenlicht nicht direcl und auch indirect nur in den seltensten Fällen voraussetzt, so ist das Verhältniss, welches der Sehende und der Blinde zu ihr einnimmt, im Wesentlichen das gleiche. Der Blinde mag, vermöge seiner eigenthümlichen Disposition, eine regere Empfänglichkeit für den Reiz musikalischer Werke und ein besonderes Talent für die Ausübung der Musik an den Tag legen, wohl auch in seiner Technik beim Spiel der verschiedenen Instrumente von jener des Vollsinnigen in mancher Hinsicht abweichen; aber ein durchgreifender charakteristischer Unterschied ist meines Wissens hier nicht zu constatiren. Nur beiläufig will ich bemerken, dass ich mich der gelegentlich von Fachmännern ausgesprochenen Ansicht, der Blinde als solcher sei ausser Stande ein musikalisches Kunstwerk zu schaffen, keineswegs anschliessen kann, wenn wir auch aus naheliegenden Gründen zur Zeil noch keinen grossen, blinden Componisten aufzuweisen haben. — Eingehender werden wir unsere Aufmerksamkeit der Betrachtung der Poesie zuwenden müssen, die zwischen den ausschliesslich im Raume wirkenden bildenden Künsten und der Musik, als der sozusagen raumlosen Kunst, in der Mitte liegt. Ihr steht darum der Blinde auch nicht fremd gegenüber, wie etwa der Malerei, aber er vermag sie auch nicht ganz so aufzufassen wie der Sehende, wie das bei der Musik der Fall ist, sondern er hat zu ihr zwar eine intime Beziehung, welche jedoch durch den Mangel des Lichtsinns mannigfache Modificationen erfährt. Diese Modificationen sind verschieden bei den verschiedenen Dichtungsgattungen, und zwar scheint mir für ihre Abstufung in erster Linie der folgende Gesichtspunkt maassgebend zu sein. Es ist die Hauptaufgabe der Poesie, Stimmungen und Leidenschaften, Schicksale und Charaktere, mit einem Wort das Psychische in seinen mannigfaltigen Erscheinungen und Beziehungen darzustellen, und so weit sie das unmittelbar thut, ist der Blinde, von dem man mit dem Dichter sagen kann, dass er „mit leichtbeweglichem Gefühl den Geist in seiner flüchtigsten Erscheinung hascht“, voll und ganz im Stande, sich ihrem Genusse hinzugeben; dort dagegen, wo die Poesie das Hauptgewicht auf die Schilderung der Aussenwelt und die Darstellung dessen legt, was man mit einem neuen Wort für eine alte Sache als „milieu“ bezeichnet, dort sieht er sich darauf angewiesen, Surrogatvorstellungen zu bilden, was natürlich die Wirkung beeinträchtigt. Indessen werden diese Surrogate, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, dem Lichtlosen oft in erstaunlich hohem Grad geläufig, und um darzuthun, wie sich dies auch auf dem Gebiet der Poesie äussert, will ich mir erlauben, hier ein Gedicht einzuschalten, welches, obwohl es von einem Blinden herrührt, doch eine Reihe glücklicher Bilder aus der Welt der Farben enthält:
  
-==== +Maiensonne.
-Maiensonne.  ====+
  
 Wie die Maiensonne strahlt\\ Wie die Maiensonne strahlt\\
-Ueber Berg und Thal! +Ueber Berg und Thal!\\ 
-  \\ +Wie sie reiche Kronen malt\\
-Wie sie reiche Kronen malt +
-  \\+
 Dort am Wasserfall!\\ Dort am Wasserfall!\\
-Welch ein Funkeln, welch ein Blitzen +Welch ein Funkeln, welch ein Blitzen\\
-  \\+
 All der Diamantenspitzen! All der Diamantenspitzen!
  
-Der Smaragde bläulich Grün, +Der Smaragde bläulich Grün,\\ 
-  \\ +Auf dem weissen Grund,\\ 
-Auf dem weissen Grund, +Feenhafte Farben sprüh’n\\
-  \\ +
-Feenhafte Farben sprüh’n +
-  \\+
 Um der Krone Rund.\\ Um der Krone Rund.\\
 Sonne hängt an güld’nem Bande\\ Sonne hängt an güld’nem Bande\\
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 Und das Leben ist die Kron’,\\ Und das Leben ist die Kron’,\\
-Sonne ist das Glück, +Sonne ist das Glück,\\ 
-  \\ +Und die Lieb‘ der Farbenton\\
-Und die Lieb‘ der Farbenton +
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 An dem Meisterstück.\\ An dem Meisterstück.\\
-Strahl’ uns langeHimmelswonne,\\+Strahl’ uns langeHimmelswonne,\\
 Lebensglück, du Maiensonne! Lebensglück, du Maiensonne!
  
friedrich_hitschmann_-_der_blinde_und_die_kunst.1583667444.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/03/08 11:37 von Daniel Schönfeld

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