Friedrich Hitschmann

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Hitschmann, Friedrich: Der erste Schultag. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung – Organ für hauswirtschaftliche Interessen, Nr. 38, S.326-327. Wien, 17. September 1893.

Online-Version: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=whz&datum=1893&page=330&size=45

Der erste Schultag

„Nur selten kommt der Augenblick im Leben.
Der wahrhaft wichtig ist und groß.“

Ein solch seltener, großer und wichtiger Augenblick ist wie alljährlich auch vor kurzem wieder in dem Dasein vieler tausend Menschen eingetreten und wie alljährlich vorübergegangen, ohne von der Mehrheit beachtet oder doch nach seiner vollen Bedeutung gewürdigt zu werden — ich meine, die Eröffnung der Schulen. Und doch wäre, sollte man meinen, dieser Moment besonders geeignet, bei allen denkenden Menschen, zumal aber bei den Eltern, deren Kinder zum erstenmal einer öffentlichen Unterrichtsanstalt übergeben werden, eine Fülle der ernstesten Reflexionen hervorzurufen. Ich will im Folgenden nur die eine oder die andere Bemerkung mittheilen, zu der die Betrachtung dieses einschneidenden Wendepunktes in der Entwicklung so vieler kaum erschlossener Menschenblüten mich anregt, und darf es getrost dem Feingefühl meiner Leserinnen überlassen, die Gedankenreihen weiter auszuspinnen, welche sich naturgemäß hieran knüpfen. Von rein individuellen und darum unberechenbaren Erlebnissen abgesehen, verläuft das Dasein des Kindes von der Geburt bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, d. i. bis zur Erreichung des schulpflichtigen Alters, gleichsam in einer Ebene. Wohl hat man mit Recht gesagt, die Gedankenarbeit, die das Kind in den drei ersten Jahren zu verrichten habe, um von der es umgebenden Welt geistig Besitz zu ergreifen, sei größer als die Gesammtheit alles dessen, was ihm im gesammten übrigen Leben noch zu leisten vorbehalten bleibe. Aber diese ungeheure Geistesarbeit geht ohne jede bewusste Anstrengung unvermerkt vor sich. Das Leben des Kindes ist in der ersten Epoche seiner Entfaltung im alltäglichen wie im höheren, philosophischen Sinne des Wortes genommen bloßes Spiel.

Der Eintritt in die Schule verwandelt dieses Spiel in Ernst, setzt an die Stelle der frei gewollten Thätigkeit den unerbittlichen Begriff der Pflicht und schafft so einen Zwang, der, werde er noch so milde gehandhabt, dem jugendlichen, seiner ungewöhnten Geiste als lastende Fessel erscheinen muss. Zn diesem, dem moralischen Moment, gesellt sich nicht minder bedeutsam das intellectuelle. Bis zu diesem Augenblicke sind, wenn ich auch hier ein ohne gewaltsame Störungen verlaufendes Kindesalter voraussetze, die Gegenstände, welche die Welt des Kleinen ausmachen, dieselben geblieben, die zuerst aus der Dämmerung seines sich gestaltenden Bewusstseins emportauchten. Das Kind hat keine Erinnerung daran, dass diese Umgebung jemals anders gewesen sei, und es entsteht daher in ihm die instinctive Empfindung, als wäre dieser Zustand der naturgemäße, ja der einzig mögliche. Nebenbei bemerkt hat diese Empfindung in ihrer Art volle logische Berechtigung, und selbst unser Glaube an die allgemeine Giltigkeit der Naturgesetze beruht auf keiner gesicherteren Grundlage. Nun wird diese Empfindung mit einemmal Lügen gestraft; neue Personen und Gegenstände drängen sich in so bunter Menge und, was die Hauptsache ist, mit so überraschender Plötzlichkeit dem Auge und Gemüth des Kindes auf, dass die ganze wunderbare Elasticität der jugendlichen Natur dazu gehört, sich so schnell, als es gewöhnlich geschieht, damit abzufinden. Nimmt man, um von vielen anderen, vielleicht nicht minder wichtigen Eindrücken hier völlig abzusehen, nur noch hinzu, dass das Kind sich dunkel bewusst ist, an der ersten Station seines Lebensweges angelangt zu sein, da es hört, es solle nun Jahre hindurch, seinen Begriffen nach eine ganze Ewigkeit, sich dieser neuen Art der Lebensführung anbequemen, so wird man es sehr natürlich finden, dass der Augenblick, in dem es die Schule zum erstenmal betritt, auch das stumpfe, apathische Kind erregen, das sensitiv angelegte jedoch bis in den Kern seines Wesens erschüttern muss. Wohl wäre es im allgemeinen am besten, so gewaltsame Erregungen, die der still und stet vor sich gehenden Entfaltung des Geistes nur nachtheilig sein können, von den Kleinen gänzlich fern zu halten, oder sie doch für ein späteres Lebensjahr zu versparen. Allein der Besuch einer öffentlichen Schule von früher Jugend auf hat andererseits so bedeutsame Vortheile, dass er selbst da, wo er durch guten Privatunterricht ersetzt werden könnte, entschieden den Vorzug verdient, und so bleibt den Erwachsenen wohl nur die Sorge, wie der große Moment am zweckmäßigsten vorbereitet und wie die gänzliche Umwälzung des geistigen Lebens, die sich in seinem Gefolge einzustellen pflegt, in ihrer augenblicklichen Wirkung am besten gemildert werden könne. Ich hätte in dieser Hinsicht zunächst nur einen einzigen Rath zu ertheilen, der noch dazu vorwiegend negativ ist, nämlich den, die Schule den Kindern nicht, wie es zu oft geschieht in einem Lichte erscheinen zu lassen, das nothwendig abschreckend und einschüchternd auf sie wirken muss. Man male sich z. B. die folgenden Situationen aus: Die Eltern sitzen im Garten und sehen ihren kleinen Knaben zu, die sich mit jauchzendem Ungestüm auf den Kieswegen vor ihnen haschen. Nun zertreten sie dabei etwa die Blumenbeete oder richten sonstigen Unfug an, wie Zeit und Gelegenheit es mit sich bringen. Scheltend will der Vater intervenieren, die Mutter aber legt beschwichtigend ihre Hand auf die seine und sagt wehmüthig: Lass' sie doch gewähren, lieber Karl, die Armen werden nun bald genug in der Schule dauernd still sitzen müssen. Die Kinder haben die ominösen Worte vernommen; wie sich danach das Bild der Schule in ihren Köpfchen gestalten mag, ist unschwer zu ermessen. Ein andermal sind die Knaben mit der Wonne spazieren gegangen. Dem lebhaften Drange ihres Alters folgend, eilen sie bald links, bald rechts vom Wege ab, hier, um Blumen zu pflücken, dort, um Schmetterlinge zu haschen, oder wohl gar um sich in dem weichen Grase nach Herzenslust zu wälzen und zu balgen. Das Mädchen fürchtet für ihre Schutzbefohlenen und vielleicht ebensosehr für deren Kleider. Es ergeht sich in eine Flut von fruchtlosen Ermahnungen und Scheltworten und ruft zuletzt in heller Ungeduld: Nicht zu bändigen sind diese bösen, ungezogenen Jungen; aber wartet nur bis zum Herbst, da müsst ihr zur Schule, und der Lehrer dort wird euch das Gehorchen schon beibringen. Das ist deutlich gesprochen, und die Kinder verstehen es auch. Die Worte hasten in ihrem Gedächtnis, und der Morgen des ersten Schulbesuches findet sie in heißen Thränen.

Welches ist nun aber die rechte Art für Eltern und Erzieher, ihre Zöglinge auf den ersten Schulgang vorzubereiten? Das lässt sich nicht auf eine prägnante Formel bringen, denn es hängt von der Individualität des einzelnen Kindes ab. Nur hat man sich meiner Ansicht nach stets von dem Bestreben leiten zu lassen, dass die Anstalt dem künftigen Schüler jederzeit in freundlichem Lichte erscheine, und demgemäß diejenigen Seiten ihres Wesens besonders zu betonen, die seinen individuellen Neigungen vorzugsweise entsprechen. Den wissbegierigen Knaben verweise man darauf, welche Fülle von Belehrung der Vortrag des Lehrers ihm bieten werde, den Ehrgeizigen auf die vortrefflichen Zeugnisse, die er durch Fleiß und Eifer erringen könne, das gesellige Mädchen auf die zahlreichen Freundinnen, die sich ihm, wofern es nur artig und gefällig sei, ohne Zweifel bald anschließen würden u. s. f. Unter den vielen hieher gehörigen Punkten will ich nur noch einen herausgreifen, weil gerade von sorglichen, übereifrigen Eltern besonders häufig in dieser Hinsicht gefehlt wird. Ich meine den Unterricht vor dem schulpflichtigen Alter. Es ist ein naheliegender Gedanke, dass ein Kind, das sich schon vor Beginn des ersten Schuljahres verschiedene Kenntnisse angeeignet hat, sich auf diese Art in der Schule weit leichter heimisch fühlen werde. Wo alle anderen ihre volle Kraft einsetzen müssen, vermag es dem Vortrag spielend zu folgen und genießt wohl gar noch den wohlfeilen Triumph, es den Genossen mit leichter Mühe zuvorzuthun; auch pflegen die Eltern, die diesen Weg einschlagen, ihr Verfahren durch die Bemerkung zu rechtfertigen, man sei bei der Festsetzung des Beginnes der Schulzeit natürlich von dem Durchschnittsmaß der kindlichen Intelligenz ausgegangen. Der in Rede stehende Knabe jedoch sei im Besitze so vorzüglicher Anlagen, dass es bare Pedanterie wäre, ihn nicht früher als seine minderbegabten Altersgenossen mit den Geheimnissen der Fibel und des Einmaleins vertraut zu machen. Ich will hier davon absehen, dass diese scheinbar so plausible Rechtfertigung oft genug nur in der Eitelkeit der Eltern begründet ist, und dass ein Kind, welches für sein Alter überraschende Kenntnisse besitzt, dieselben häufig nur durch Überanstrengung und demnach auf Kosten seiner gesunden und ungestörten Geistesentwicklung gewonnen hat. Aber auch der eigentliche Zweck, die Acclimatisation des Kindes in der Schule, wird auf diesem Wege nicht erreicht. Jener wohlfeile Triumph über die Kameraden macht es hochmüthig und drängt es in eine isolierte Stellung, und die Leichtigkeit, mit der es die längst vertrauten Dinge im Vortrag des Lehrers auffasst, stumpft seinen Eifer ab, macht es träge und theilnahmslos, kurz, bewirkt in jeder Hinsicht gerade das Gegentheil jener Anregung, in welcher intellectuell wie moralisch genommen der höchste pädagogische Wert der Schule besteht. Die Sorge der Eltern hat sich demnach darauf zu beschränken, dass das Kind bei seinem Eintritt in die Schule fähig sei, das dort Gebotene in sich aufzunehmen, eine Forderung, die sich in der geistigen Atmosphäre des gebildeten Mittelstandes gleichsam von selbst erfüllt, und dass es den Absichten des Lehrers mit freudigem Eifer entgegenkomme, was einfach dadurch erreicht wird, dass man ihm die Schule nicht als einen Ort der Qual, sondern als eine Stätte ernster, aber erfreulicher Thätigkeit schildert. Alles Weitere muss der Schule selbst überlassen bleiben, und wo ihre Leitung in den richtigen Händen liegt, da wird sie ihre Aufgabe auch wohl lösen.

Friedrich Hitschmann.

friedrich_hitschmann_-_der_erste_schultag.txt · Zuletzt geändert: 2024/11/19 20:41 von Daniel Schönfeld

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