Friedrich Hitschmann

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Hitschmann, Friedrich: Über das Traumleben des Blinden. In: Ebbinghaus, Hermann u. Arthur König (Hrsg.): Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. VII, S. 387-394. Hamburg und Leipzig, 1894.

Online-Version: https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit15563&page=p0387; https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/piresolver?id=lit15563

Über das Traumleben des Blinden.

Von Friedrich Hitschmann in Wien (†).

Die tiefgreifenden Unterschiede, welche im Wachen zwischen dem Seelenleben des Vollsinnigen und des Blinden bestehen, müssen sich natürlich auch in der Traumwelt beider geltend machen.

Ich möchte versuchen, im folgenden, wenn auch nur skizzierend, den Charakter und die Ursachen dieser Unterschiede darzulegen. Als Grundlage meiner Untersuchung habe ich, da ich selbst blind bin, fast ausschließlich das Material meiner eigenen Träume benutzt und die Berichte anderer Blinder nur mit äußerster Vorsicht als Ergänzung oder Korrektiv herangezogen. Denn die Unzuverlässigkeit, welche jeder Traumerinnerung ihrer Natur nach anhaftet, wird natürlich unverhältnismäßig gesteigert, sobald es sich nicht um eigene, sondern um fremde Traumphänomene handelt. Trotz ihres fragmentarischen und subjektiven Charakters vermögen solche Aufzeichnungen doch vielleicht mittelbar manches zur Erforschung gewisser schwieriger Probleme beizutragen, deren Lösung für die Psychologie von höchstem Werte sein müßte.

Sully thut in seinem Buche über „Die Illusionen“ den Ausspruch, der Traum zeige unter allen psychischen Phänomenen mit der Sinneswahrnehmung die größte Ähnlichkeit, weshalb er ihn auch im Zusammenhang mit dieser behandle. Im Hinblick auf den Sehenden bedeutet dies nichts weiter als die Konstatierung einer bekannten Thatsache; auf den Blinden jedoch leidet dieser Satz gar keine, oder doch nur eine sehr beschränkte Anwendung. Ich habe in anderen Arbeiten bereits wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß der Lichtlose überhaupt weit seltener in anschaulichen Bildern als in abstrakten Surrogatvorstellungen denkt, und diese Eigentümlichkeit seines psychischen Organismus kommt naturgemäß im Traume doppelt nachdrücklich zur Geltung. Da nämlich jene anschaulichen Bilder nur selten auftreten und darum nur lose im Gefüge des Geistes haften, so vermögen sie durch den gesetzmäßigen Verlauf der reproducierenden Thätigkeit, auf welcher meiner Ansicht nach alles Träumen im wesentlichen beruht, auch nur schwer über die Schwelle des Bewußtseins gehoben zu werden. Es sei mir gestattet, das Gesagte durch ein Beispiel deutlich zu machen. Wenn ein Vollsinniger etwa von seinem Freunde träumt, so tritt ihm nicht bloß das Gesichtsbild des letzteren vor die Seele, sondern es gesellt sich zu diesem auch leicht eine größere oder geringere Anzahl von Nebeneindrücken, welche sich sonst wohl mit ihm vereinigt dem Auge darzustellen pflegten: die Kleidung, welche der Freund getragen, das Zimmer, das er bewohnte, u. s. w. Der Blinde, auch wenn er Gelegenheit erhielt, solche Eindrücke ebenfalls in sich aufzunehmen, etwa indem er die Kleider betastet oder das Zimmer nach allen Richtungen durchschritten hat, legt gleichwohl, da sein Geist nun einmal auf Surrogatvorstellungen gestellt, gleichsam auf sie eingeschult ist, auf jene Momente kein sonderliches Gewicht, und jedenfalls ist ihm die Gestalt des Freundes mit ihrer Umgebung nicht so fest verbunden, es bildet sich für ihn zwischen beiden keine so innige Association, daß der Traum nicht jene auszulösen vermöchte,ohne auch diese mit zu reproducieren. Charakteristisch dafür, wie wenig der Blinde an sich indifferente Sinneswahrnehmungen seinem Wesen assimiliert, ist der Umstand, daß ich meines Wissens noch niemals träumte, ich handhabte meinen Schreibapparat, oder läse mit tastendem Finger aus einem Buche in Blindenschrift, obwohl beides zu meinen täglichen Beschäftigungen gehört.

Eine größere Rolle im Traumleben des Lichtlosen spielen allerdings die Gehörswahrnehmungen, aber auch sie nur insofern, als sie auf irgend welche Weise durch innere Bedeutung ausgezeichnet sind, psychischen Wert besitzen. Besonders kehrt die menschliche Stimme, in der sich für den Blinden das Wesen der Personen äußerlich zusammenfaßt, ähnlich, wie für den Sehenden in der Physiognomie, häufig in seinen Träumen wieder. Es ist eine interessante Thatsache, daß ihm nicht selten selbst die Tiere als mit menschlicher Stimme und Rede begabt erscheinen, besonders Hunde und Vögel, vermutlich gerade sie, weil ihm die Vorstellung derselben aus seiner täglichen Erfahrung noch am geläufigsten zu sein pflegt.

Bisweilen treten freilich sinnliche Eindrücke jeder Art in das Traumleben des Blinden ein, dann nämlich, wenn sie unter dem Einflusse außerordentlicher Umstände im Wachen mit starken Lust- oder Unlustempfindungen associiert und dadurch dem Gedächtnisse fest eingeprägt worden sind. So erzählte mir ein blinder junger Mann, der jährlich einmal auf Besuch nach Hause reiste, er träume noch lange nachher oft von der Eisenbahnfahrt und höre dabei nicht bloß das dumpfe Rollen der Räder und den schrillen Pfiff der Lokomotive, sondern fühle auch den frischen Luftzug von dem geöffneten Fenster her, nähme den Geruch der in den Stationen feilgebotenen Speisen wahr etc. – eine Treue der Reproduktion, welche sich nur daraus erklären läßt, daß hier die an sich gleichgültigen und darum flüchtigen Eindrücke sich mit der starken Empfindung sehnsuchtsvoller Erwartung associierten und dadurch eine wesentliche Steigerung ihres psychischen Wertes, also auch ihrer Persistenz, erfuhren. Übrigens mag der Umstand, daß jede dieser Eisenbahnfahrten zwei volle Tage dauerte, nicht wenig dazu beigetragen haben, jenen Wahrnehmungen die Lebhaftigkeit zu verleihen, deren sie bedurften, um im Traume reproduciert werden zu können. Ich selbst träumte als Knabe häufig von dem Zahnarzt, den ich sehr fürchtete, und unter dem Einflusse dieses Affekts glaubte ich im Traume nicht nur seine eigentümlich kreischende Stimme zu hören, sondern oft auch in seinem hohen Polsterstuhl zu sitzen, das kalte Eisen seiner Instrumente zu fühlen u. s. w. Aber das sind, wie gesagt, Ausnahmefälle, im allgemeinen pflegt der Lichtlose nur äußerst selten Tastempfindungen und, wenn man von dem Klange der menschlichen Stimme absieht, auch Wahrnehmungen des Gehörs nicht eben häufig zu reproducieren.

Noch will ich in diesem Zusammenhange die Frage streifen, ob und inwiefern es möglich sei, daß der Blinde sich als sehend träume – ein von den Dichtern mehrfach und nie ohne Erfolg verwendetes Motiv. Daß ich mich mit jener mystischen Auffassung nicht einverstanden erklären kann, welche behauptet, die Seele streife im Traume alle Erdenschwere von sich ab, um sich als ein von allen irdischen Schranken befreiter Geist in die Sphäre des Übersinnlichen zu erheben, und könne in diesem höheren Zustande wohl auch Fähigkeiten gewinnen, die ihr während des Wachens versagt seien – daß ich solche Schwärmereien nicht teile, brauche ich hier wohl kaum ausdrücklich zu betonen. Von jedem anderen Standpunkte jedoch vermag man die Möglichkeit eines solchen Phänomens nur sehr bedingt zuzugeben. Daß der Späterblindete sich im Traume oft in den Zustand zurückversetzt fühlt, da er noch die tausend Formen und Farben der Welt mit offenem Blicke in sich aufnahm, zumal wenn er während des Wachens jener schönen Zeit häufig und in trauernder Sehnsucht gedenkt, wird jeder natürlich finden. Selbst dann, wenn im Laufe der Jahre die Erinnerungsbilder des Gesichtssinnes bei ihm allmählich verblaßt sind, mögen sie sich der träumenden Seele noch mit größerer Lebhaftigkeit darstellen, weil durch das ungehemmte Walten der Association im Traume die Intensität der Reproduktionskraft und somit auch die Lebendigkeit der Erinnerungen selbst verstärkt wird. Ebenso einleuchtend scheint es mir jedoch, daß die Traumthätigkeit, mag sie die vorhandenen Vorstellungselemente noch so mannigfaltig gruppieren, doch zu den thatsächlich gegebenen keine absolut neuen hinzufügen kann, so daß der Blindgeborene, dem es an jedem Material zu Gesichtsvorstellungen gebricht, auch im Traume unmöglich wirklich zu sehen im stande ist. Freilich erscheint es principiell nicht ausgeschlossen, daß auch der Blindgeborene sich sehend träume, aber das, · was er dann sehen nennt, ist bloß ein Surrogat im eigentlichsten Sinne des Wortes, entstanden aus rein zufälligen und vielleicht völlig sinnlosen Associationen, welche sich gerade für dieses Individuum mit dem Worte sehen verknüpften, und wenn man die in solchen Fällen faktisch gegebene Empfindung mit der durch wirkliche Gesichtseindrücke hervorgerufenen im einzelnen vergleichen könnte, so würde sich wahrscheinlich ergeben, daß diese mit jener auch nicht den kleinsten Zug gemein hat. Übrigens habe ich mich selbst noch niemals sehend geträumt, obwohl ich erst in meinem dritten Jahre erblindet bin, und obwohl ich auch heute noch die Fähigkeit besitze, Licht und Dunkel zu unterscheiden, und auch von meinen Schicksalsgefährten wurde mir kein einziger derartiger Traum berichtet. Bei näherer Erwägung erweist sich das auch als sehr begreiflich. Der Blinde im allgemeinen hat sich mit seinem Gebrechen so ziemlich abgefunden und fühlt sich in demselben als in einem gewohnten und daher im natürlichen Zustande; es fehlt ihm unter normalen Verhältnissen durchaus an jener schmerzlichen Sehnsucht nach dem Lichte, welche sich der Vollsinnige so poetisch auszumalen pflegt, und demgemäß auch an den heftigen Gemütsbewegungen, deren es bedurfte, um Vorstellungen, welche ihm so ferne liegen wie Licht und Farbe, auch nur als Surrogate in seine Traumwelt einzuführen.

Fassen wir nun die Frage ins Auge, wie der Blinde sich gegen jene Phänomene verhält, die man gewöhnlich als Reizträume bezeichnet und deren Wesen darin besteht, daß entweder durch Vorgänge in der Umgebung des Schläfers, oder durch solche, welche sich in seinem eigenen Leibe vollziehen, Nervenreize hervorgerufen werden, welche der Träumende dann in Vorstellungen umsetzt und nach den Gesetzen der Association mit den gerade dominierenden Vorstellungsgruppen verbindet. Auch hier scheint der Blinde gegen von außen kommende Tastreize relativ unempfindlich zu sein und sich ihrer überhaupt nicht bewußt zu werden, sofern sie nicht intensiv genug sind, ihn zu wecken; wenigstens sind zahlreiche Experimente, welche ich diesbezüglich an mir anstellte, erfolglos geblieben. Gehörswahrnehmungen dagegen verwebt der Blinde bisweilen in seine Träume, wie mir denn beispielsweise der Klang einer Glocke, den ich im Morgenschlummer vernahm, die Vorstellung erweckte, als befände ich mich auf einem Dampfschiffe, auf dem soeben das Signal zur Abfahrt gegeben würde – ein Traum, der merkwürdigerweise ganz in derselben Gestalt auch bei einem anderen Blinden wiederkehrte. Nicht selten gaben mir Trompetensignale in der meinem Wohnhause gegenüberliegenden Kaserne die Traumvorstellung einer Feuersbrunst, und erst kürzlich träumte ich infolge des Wagengerassels, das von der Straße zu mir heraufdrang, man habe in einem Nebenraume eine summende und surrende Maschine aufgestellt, und beklagte mich bitter darüber, wie sehr mich dies fortgesetzte Geräusch in meinen Studien störte. Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich ausdrücklich, daß ich weder jene Feuersglut zu fühlen, noch diese Maschine zu betasten, noch weniger die beiden zu sehen glaubte, sondern daß ich bloß von ihnen sprechen hörte und sie, wie ja auch im Wachen die meisten Dinge der Außenwelt, nur als Surrogatvorstellungen dachte.

Was nun die aus dem Inneren des Leibes stammenden Nervenreize betrifft, so muß ich vor allem bekennen, daß ich von jener geheimnisvollen Kraft der Traumphantasie, welche sich nach der Behauptung Scherners und anderer Traumpsychologen anschauend in jeden gereizten Teil des Körpers versenken, uns das hier aufgefaßte Bild in allerlei symbolischer Einkleidung in den Traumraum hinausprojicieren sollen, nie die geringste Spur wahrzunehmen vermochte. Selbst das durch eine Lungenreizung hervorgerufene Gefühl, durch die Luft zu fliegen, ein Phänomen, dessen Vorhandensein von den verschiedensten Forschern bestätigt wird, habe ich niemals an mir beobachtet, was allerdings in dem Umstande begründet sein kann, daß ich mich einer sehr gesunden, kräftig organisierten Lunge erfreue. Soweit meine Erfahrung reicht, verflicht der Blinde die Empfindung körperlichen Mißbehagens irgend welcher Art in seine Träume fast immer nur unmittelbar als das, was sie ist: Kopfschmerz als Kopfschmerz, Zahnweh als Zahnweh u. s. f. Dies ist selbst dann der Fall, wenn die Ideenverbindung zwischen dem betreffenden Wehegefühl und den gerade vor herrschenden Traumbildern sich nur sehr schwer herstellen läßt, wofür ich ein merkwürdiges Beispiel anführen will. Ich fand mich, wie mir das oft begegnet, im Traume in meine Schulzeit zurückversetzt, und ein Lehrer fragte mich, was für Unterrichtsgegenstände heute vorgenommen worden wären, wobei er sich der in Schulen gebräuchlichen Redewendung bediente: Was habt ihr heute gehabt? An diese Form seiner Frage anknüpfend, brachte ich auf dem Umwege eines Wortspieles zugleich die Empfindung zum Ausdruck, daß der Kopf mich heftig schmerzte, indem ich antwortete: „Wir hatten Geographie, Geschichte und – Kopfweh – letzteres allerdings nur ich allein,“ worauf der Lehrer bemerkte, „dieser Zusatz ist auch höchst nötig gewesen.“

Wenn nach dem Gesagten die Traumwelt des Blinden sehr arm an sinnlich anschaulichen Vorstellungen ist, so ist sie dagegen reich an eigentümlichen, abstrakten Phänomenen, welche sich in ihrer Art nicht minder wirksam erweisen, als jene. Ich litt in früheren Jahren viel an Schwindelanfällen, die sich im Schlafe einzustellen pflegten; die Träume aber, welche solchen Anfällen vorhergingen, waren nicht ein einziges Mal derart, daß ich etwa aus beträchtlicher Höhe zu Boden zu stürzen, oder mich, wie es im Tanze geschieht, schnell um mich selbst zu drehen gewähnt hätte. Vielmehr fühlte ich mich dann gewöhnlich von völlig vagen, undefinierbaren Schrecknissen geängstigt, die sich bisweilen sonderbarerweise in bestimmte abstrakte Begriffe verwandelten, ohne daß ich auch nur annähernd zu bestimmen vermöchte, was mir denn so große Furcht vor ihnen einflößte. So erinnere ich mich beispielsweise, daß ich einst als Knabe im Traume eine Addition vornehmen sollte; plötzlich wurde mir klar, daß ich, ohne es selbst zu wissen, multipliciert hatte, und die Vorstellung von der auf diese Weise entstandenen ungeheuren Zahl erfüllte mich mit unaussprechlichem Entsetzen. Ich erwachte, in Angstschweiß gebadet, und rief der Mutter, die hülfreich an mein Lager eilte, zitternd entgegen: ,,Ach Gott, es wächst der Länge und der Breite nach,“ wobei mir unklar der Begriff des Quadrierens vorgeschwebt haben mag. Wenn in Träumen der geschilderten Art die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das von Schreck und Furcht gequälte Ich hingelenkt wird, tritt in anderen das subjektive Moment so sehr zurück, daß man sie wohl als unpersönlich bezeichnen dürfte. Ich habe eine derartige Erscheinung bei Sehenden noch nie gefunden, während sie bei mir etwas Alltägliches ist und, wenngleich nicht ganz so häufig, auch bei anderen Blinden wiederkehrt, weshalb ich hier ausdrücklich auf sie hinweisen muß. Das Charakteristische dieser Träume liegt darin, daß der Träumende selbst gar nicht in den Traumvorgang eingreift und auch in keiner Weise in denselben verwickelt ist, sondern sich ihm gegenüber als unbeteiligter Zuschauer verhält. Die gewöhnliche Form dieser Traumgattung ist die, daß man wähnt, die Dinge würden erzählt oder vorgelesen, oder man wohne der Aufführung eines Theaterstückes bei, ohne daß jedoch auf die Art und Weise der künstlerischen Interpretation irgend welches Gewicht gelegt würde. Ich habe auf diese Weise bereits ganze Novellen, bisweilen auch Dramen oder philosophische Vorlesungen geträumt, konnte mich des Morgens aber immer nur auf ein Chaos verworrener Vorstellungen besinnen. Treuer erweist sich das Gedächtnis da, wo es sich um die Reproduktion stilistisch markanter Wendungen, besonders um Verse, handelt. Die letzteren finden sich in den Träumen der Blinden sehr häufig, ein neuer Beweis für die von mir an anderer Stelle eingehend besprochene Thatsache, daß dem Lichtlosen ein ungemein reges Formgefühl eigentümlich ist. So träumte ich einst, ich glaube, es war kurze Zeit nach der Lektüre der „Geschichte des Don Carlos“ von St. Real, welche Schiller bekanntlich als Quelle für sein Drama benutzte, eine am spanischen Hofe spielende Geschichte voll Kabale und Intriguen, in welcher eine Prinzessin die geheimen Ränke ihrer Schwester aufdeckte und ihr in Beantwortung, ich weiß nicht mehr welcher Frage, zürnend zurief:

„Weil du nach Spaniens Königskrone trachtest,
Die du dir in den Brautkranz flechten willst.“

Aber nicht bloß an mir, der ich mich viel mit litterarischen Studien abgebe, sondern auch bei anderen Blinden, die wenig Gelegenheit haben, sich vorlesen zu lassen, habe ich die Thatsache des In-Versen-Träumens zu konstatieren vermocht. Ein blinder junger Mann meiner Bekanntschaft, der als Musiker von Beruf nicht viel mit Versen zu schaffen hat, träumte in einem Zusammenhange, dessen er sich nicht mehr erinnert, die folgenden Zeilen, die sich wie das Fragment eines größeren Gedichtes anhören:

Es trippelt Freund Hein,
In der Nacht,
In der Nacht,
Ganz sacht.

Bemerkenswert ist, daß der Träumende dabei aus dem Schlafe redend vor sich hinmurmelte: „Zwölf Worte, zwölf Tote, es stimmt.“ Der zweite Teil dieser Äußerung bezog sich wohl auf die später in Vergessenheit geratenen Traumbilder, der erste aber offenbar auf die Worte der citierten Verszeilen, deren Zahl in der That zwölf beträgt. Ich gebe diese immerhin auffällige Thatsache wieder, weil sie vielleicht einen Schluß auf die Art und den Grad der Geistesthätigkeit während des Schlummers gestattet, ohne darauf hier weiter einzugehen. Der Zweck dieser Skizze war ausschließlich der, darauf aufmerksam zu machen, daß zwischen dem Traumleben des Blinden und des Sehenden tiefgreifende Unterschiede obwalten, und an der Hand zuverlässiger Beispiele anzudeuten, worin diese Unterschiede im wesentlichen bestehen.

friedrich_hitschmann_-_ueber_das_traumleben_des_blinden.txt · Zuletzt geändert: 2020/03/15 17:12 von Daniel Schönfeld

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