Hitschmann, Friedrich: Über die Erziehungkunst. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 4, S.29. Wien, 21. Januar 1894.
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Über die Erziehungkunst.
Philosophische Plauderei.
Wenn ich nicht irre, war es der bekannte österreichische Staatsmann Friedrich v. Gentz, der den Ausspruch that, um irgend ein Handwerk betreiben zu dürfen, müsse man einen Befähigungsnachweis erbringen, nur für die schwere Kunst des Regierens glaube jeder ohneweiters mit der nöthigen Vorbildung ausgestattet zu sein. Mich dünkt, auch von der Erziehung ließe sich mit Fug das gleiche behaupten. Oder welche Eltern würde es nicht mit Entrüstung erfüllen, wenn man ihnen den Vorwurf machte, dass sie ihre Kinder nicht zu erziehen verstünden, auch wenn sie vorher keinen Augenblick daran gedacht, sich auf die große Aufgabe der Heranbildung einer neuen Generation in geziemender Weise vorzubereiten. Wie nöthig eine solche Vorbereitung wäre, das beweist die frevelhafte Sorglosigkeit, mit der in so vielen Familien die Jugend sich selbst überlassen, wenn nicht gar durch schlimmes Beispiel mißleitet wird, und Anzengruber, dieser Kenner des menschlichen Herzens, hat recht mit seinem harten Wort, dass es für manche das größte Unglück sei, von ihren Eltern erzogen zu werden. Wie diesem schweren Übelstande begegnet werden kann? Radical vermöchte es wohl nur dadurch zu geschehen, dass die Menschen in ihrer Gesammtheit auf jene hohe Stufe sittlicher und geistiger Entwicklung erhoben würden, welche unerlässlich ist, um die Heiligkeit der Erziehungspflicht zu fühlen und ihren Anforderungen Genüge zu leisten. Aber bis das geschieht, wird es wohl noch lange währen, und auch die Ermahnung des Priesters, auf welche der Dichter des „Vierten Gebotes“ uns hinweist, vermag hier zwar gelegentlich, aber keineswegs entscheidend einzugreifen, schon darum, weil das Bleigewicht schwerer physischer Arbeit den seelischen Aufschwung von Millionen unerbittlich hemmt. Der Jugend aller Stände eine gedeihliche Erziehung zutheil werden zu lassen, dieses Problem ist, wie mir scheinen will, ein Theil der großen socialen Frage und wird nur mit dieser eine befriedigende Lösung finden. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den Umstand aufmerksam machen, dass auch in den Kreisen, deren Kräfte durch den Kampf ums Dasein durchaus nicht völlig in Anspruch genommen werden, die Bedeutung einer pädagogischen Vorbildung von Seite der Eltern meines Erachtens entschieden nicht in vollem Maße gewürdigt wird, und dass besonders die Mädchen der begüterten Gesellschaftsklasse, welche ja die Erziehung der Kinder als den wesentlichsten Theil ihres zukünftigen Lebensberufes anzusehen hatten, in dieser Hinsicht viel versäumen. Man wende nicht ein, es sei genug, dass man den Mädchen Gelegenheit biete, alle Anlagen ihres Geistes und Gemüthes nach Möglichkeit zu entfalten, alles andere dürfe man getrost jenem geheimnisvollen Instinct überlassen, der dem Frauen-, besonders aber dem Mutterherzen eingeboren sei und dasselbe gewöhnlich weit sicherer leite als alle graue Theorie. Dergleichen nimmt sich in Büchern vortrefflich aus und mag auch ein Körnchen Wahrheit enthalten, ich aber würde gleichwohl Bedenken tragen, das Heil derer, die mir auf Erden die nächsten und überdies meiner Fürsorge rückhaltlos anheimgegeben sind, diesem undefinierbaren Etwas blindlings anzuvertrauen. Übrigens macht schon die Thatsache, dass gerade die zärtlichsten Mütter, eben durch ihre Zärtlichkeit verblendet, ihre Kinder nicht selten durch Schwäche und unzeitige Nachgiebigkeit verwöhnen, mir die Unfehlbarkeit jenes vielgerühmten Instincts sehr verdächtig. Ferner möchte ich, um nur noch ein gewichtiges Moment hervorzuheben, auch betonen, dass das Heranwachsende Geschlecht eines gleichmäßig liebevollen Benehmens bedarf, als der geistigen Atmosphäre, in der allein die zarten Keime des jungen Herzens gedeihliche Entwicklung finden können. Woher aber Mite unseren nervös reizbaren und daher launenhaft unbeständigen Damen eine solche wohlthuende Stetigkeit kommen, wenn ihnen nicht durch pädagogische Vorbildung die Nothwendigkeit einer zielbewussten Selbstbeherrschung in diesem Punkte klar gemacht wird. Die Frage allerdings, auf welche Weise diese Vorbildung zu gewinnen sei, ist ziemlich schwer zu beantworten. Vor allem möchte ich nicht dahin missverstanden werden, als läge es in meiner Absicht, jene Pädagogiklectionen zu befürworten, welche in neuerer Zeit einen integrierenden Bestandtheil gewisser höherer Töchterschulen ausmachen. Denn dass das junge Mädchen in einem Alter, in dem es überhaupt noch nicht imstande sein kann, die ganze Tragweite des Gegenstandes zu erfassen, gezwungen wird, eine Menge trockener Definitionen und Classificationen auswendig zu lernen, die sie, sobald sie ihrer nicht mehr für den Unterricht bedarf, mit anderem unverdaut gebliebenen Wissensstoff in der Rumpelkammer des Gedächtnisses verstauben lässt, dergleichen scheint mir ohne jeden effectiven Wert zu sein. Vielmehr käme alles darauf an, in dem jugendlichen Geiste das Verständnis für die unermessliche Wichtigkeit der Erziehung und dadurch zugleich das Bedürfnis wachzurufen, sich mit den einschlägigen Fragen vertraut zu machen, ein Bedürfnis, dem dann das einzelne Mädchen nach Maßgabe seiner Beanlagung früher oder später und in mehr oder weniger reichlichem Maße durch eigene Lectüre genügen mag. Freilich fehlt es leider an Büchern, welche dem hier angedeuteten Zwecke vollkommen entsprächen, indem sie die allgemein giltigen Grundsätze der Erziehungskunst in gemeinverständlicher und dadurch anregender Darstellung behandelten. Selbst Werke wie der „Emil“ von Rousseau oder „Lienhard und Gertrude“ von Pestalozzi lassen zu wünschen übrig, da sie unbeschadet ihrer sonstigen Vortrefflichkeit bereits in manchem Punkte veraltet und überdies für das Ziel, das wir hier im Auge haben, vom Standpunkte einer zu einseitigen Lebensauffassnng geschrieben sind. Am wünschenswertesten wäre es, wenn eine geistvolle Frau sich entschließen wollte, ihre pädagogischen Erfahrungen ohne jede philosophische Prätension in einem populär gehaltenen Büchlein niederzulegen. Ein solches Büchlein würde um so größeren Anklang finden und um so höheren Segen stiften, je tiefer die Verfasserin im Boden der Gegenwart wurzelte, weil sie nur dann, wenn sie mit all unseren kleinen und großen Leiden durch eigene Anschauung vertraut wäre, in jedem einzelnen Falle auf das, was noththut, hinzuweisen vermochte. Freilich würde eine solche Schrift weniger positive Normen als individuelle Ansichten geben, aber im Individuellen liegt das Leben, und individuell bleibt ja auch die Art, das Erlernte in der Praxis zu verwerten; auch dort muss begreiflicherweise eigene Beobachtung und eigenes Nachdenken das Beste thun; was ich in seiner Nothwendigkeit erwiesen zu haben wünsche, ist nur, dass diese Beobachtungen und dieses Nachdenken auf theoretische Grundlagen gestellt werden sollten, um gedeihliche Erfolge zu erzielen.
Friedrich Hitschmann.