Friedrich Hitschmann

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Hitschmann, Friedrich: Über „Emil“ oder „Die Erziehung“. In: Kürt, Camilla (Hrsg.): Wiener Hausfrauen-Zeitung, Nr. 15, S.128-129. Wien, 8. April 1894.

Online-Version: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=whz&datum=1894&page=132&size=45

Über "Emil“ oder "Die Erziehung". *)

Eine pädagogische Studie.

*) Eine der letzten Arbeiten des leider so früh verstorbenen Mitarbeiters.

Es ist nun etwa 130 Jahre her, da wurde das Buch, von dem ich heute reden will, infolge eines Parlamentsbeschlusses zu Paris von Henkers Hand öffentlich verbrannt und gegen den Verfasser ein Verhaftsbefehl erlassen, der ihn nöthigte, fast den ganzen Rest seines Lebens als irrender Flüchtling in fremden Ländern zu verbringen.

Seither hat die Zensur das Werk längst freigegeben, es wurde fast in alle Sprachen übersetzt und durch wohlfeile Ausgaben den weitesten Kreisen zugänglich gemacht und — wird kaum mehr gelesen. Nur der Literarhistoriker, der in „Emil“ eine bedeutsame Kundgebung des Geisteslebens jener Tage erblickt, und der eifrige Pädagog, der sich auch für die Geschichte seiner Wissenschaft interessiert, weiß von seinem Dasein und versenkt sich bisweilen noch in seine fesselnden Ausführungen. Und doch gehört der „Emil“ zu jenen Büchern, die man Jahr für Jahr öffentlich besprechen sollte, um das große Publicum immer wieder daran zu erinnern, dass sie existieren und die Lectüre reichlich lohnen. Freilich, die meisten von den allgemeinen Gesichtspunkten Rousseaus haben heute keine Geltung mehr; höchst sonderbar berührt uns z. B. der fanatische Kampf gegen den Lusces, der als rother Faden das Werk durchzieht und den Verfasser unter anderem stets aufs neue zu einer ebenso witzigen als ungerechtfertigten Polemik gegen die Ärzte veranlasst, ein Zug, den er übrigens mit einem sehr modernen Autor, dem Grafen Leo Tolstoi, gemein hat. Auch wenn er die Rangordnung der Künste nach ihrer Nützlichkeit bestimmt und demgemäß die Schlosserei hoch über die dramatische Darstellung erhebt, macht uns dies einen sehr fremdartigen Eindruck. Indessen werde ich dergleichen Züge im Folgenden nur insoweit berücksichtigen, als sie für den Zusammenhang nothwendig oder für den Autor besonders charakteristisch sind, und mich im übrigen an die Fülle feinsinniger Beachtungen und geistvoller Reflexionen halten, die das Werk schmücken. Wenn es mir gelingt, einen oder den anderen Leser zu veranlassen, das Buch selbst zur Hand zu nehmen, so werde ich meinen Zweck erreicht haben und er seine Zeit nicht verlieren.

Nach Rousseau hängt die Entwicklung des Menschen von drei Momenten ab: von der Natur, wir sagen heute von seiner physiologischen Beanlagung, von den Dingen, die man mit einem modernen Ausdruck als „milieux“ bezeichnet, und von dem Menschen, d. h. von der Erziehung im engeren Sinn. Im ersten Abschnitt eifert Rousseau gegen die Verwendung fremder Ammen, gegen das Einschnüren der Säuglinge und ähnliche Übelstände der Kindespflege, und hier fehlt es ihm fast durchaus an Originalität, doch bemerkt Buffau mit Beziehung auf diesen Punkt sehr treffend: „Es ist wahr, wir haben das alles schon früher gesagt, aber erst Rousseau befiehlt es und erzwingt sich Gehorsam.“ Vortrefflich und vielleicht am besten gelungen in dem ganzen Werk sind die nun folgenden Ausführungen, weshalb ich etwas länger bei ihnen verweilen muss. In dem Maße, in dem der Geist des Kindes sich entwickelt, vervollkommnet sich auch das Organ, das zur Mittheilung seiner Gedanken und Empfindungen bestimmt ist, die Sprache. Schon der Säugling hört aufmerksam zu, wenn man zu ihm spricht, aber er verbindet noch keinen Sinn mit den einzelnen Worten, sondern fasst in unbestimmtem Gefühle nur den Tonfall derselben auf, und auch wenn das Kind aus diesem Stadium allmählich heraustritt, gleicht die Sprache, die es sich zunächst nach individuellen Bedürfnissen gestaltet, keineswegs in jeder Hinsicht der unseren, ein Gedanke, der sich für die Erforschung der Kindesseele nach mancher Richtung fruchtbar erweisen möchte, und aus dem sich besonders viele Missverständnisse und Verwechslungen erklären ließen. Von hoher Wichtigkeit für die sprachliche Entwicklung ist es auch, dass man das Kind nöthige, all seine Wünsche wiederholt und deutlich auszudrücken; denn nur darauf beruht es, dass Bauernkinder meist reiner und klarer accentuieren, während die Kinder der Vornehmen, auf deren leiseste Äußerung jedermann gespannt horcht, sich eben deshalb eine verworrene Sprache angewöhnen.

Schon bei Rousseau, der überhaupt in der Beobachtung des Details sehr glücklich ist, finden wir die Thatsache erwähnt, dass die Kleinen den Tisch zu schlagen pflegen, an dem sie sich gestoßen haben, und dass sie, wenn sie gefallen sind, gewöhnlich nur dann in laute Klagen ausbrechen, wenn sie wissen, dass Erwachsene in der Nähe weilen, die geneigt sind, sie zu bedauern und zu trösten. Nur über die Entstehung des Ichbegriffes, über den Moment, in dem das Kind sich bewusst wird, dass es eine individuell bestimmte, von allen anderen streng geschiedene Persönlichkeit ist, sagt uns der Autor nichts, und das ist um so befremdlicher, als dieser Augenblick unbedingt einen wichtigen Wendepunkt in der Entfaltung des kindlichen Geistes darstellt. Die Erziehung, welche Emil, so heißt Rousseaus typischer Musterzögling, in der folgenden Epoche, d. h. bis zum zwölften Jahre erhält, ist äußerst merkwürdig. Bis zu diesem Zeitpunkt, meint der Verfasser, denken die Kinder nur in Bildern, nicht in Ideen, in unserer Sprache ausgedrückt, sie sind nur anschaulicher Vorstellungen nicht abstracter Begriffe fähig, und es soll daher diese Zeit lediglich der körperlichen Entwicklung gewidmet und mit dem Unterricht noch gar nicht begonnen werden.

In dieser Periode, heißt es einmal, besteht die Kunst des Erziehers darin, Zeit zu verlieren, und an einer anderen Stelle finden wir die Bemerkung, der Lehrer habe sehr viel zu thun, nämlich zu verhindern, dass überhaupt etwas geschehe. Wie vergeblich, ja schädlich der Versuch ist, den Schülern Kenntnisse beizubringen, für die ihr Geist noch nicht die nöthige Reife besitzt, weiß uns Rousseau mit ebensoviel Humor als Scharfsinn nachzuweisen. Er analysiert z. B. die bekannte Lafontaine'sche Fabel: „Der Rabe und der Fuchs“, die man die Kinder noch heute mit Vorliebe auswendig lernen lässt, und zeigt, wie viele abstracte Ausdrücke, wie viele dem Salonleben entlehnte Wendungen darin vorkommen, die dem Schüler unverständlich bleiben müssen. Das Studium der Geographie, wie es an der Hand von Karten, Globen und complicierten Planigloben betrieben zu werden pflegt, vermittelt nach Rousseaus Meinung dem Kinde nur die Kenntnis dieser Utensilien, nicht aber die Dinge, die sie darstellen, und erinnert ihn deshalb an jenes Lehrbuch der Erdbeschreibung, das mit der Definition beginnt: „Die Erde ist eine Kugel aus Pappe.“ Emil lernt all diese Dinge viel später, und zwar ohne die Vermittlung irreführender Surrogate, indem er von den Beobachtungen des Sonnenauf- und Niederganges und ähnlicher Naturerscheinungen ausgeht. Die Zwecklosigkeit des geschichtlichen Unterrichtes während dieser Epoche soll aus einem drastischen Beispiele nachgewiesen werden. Jedermann kennt die Anekdote, wie Alexander der Große, obwohl man ihm heimlich mitgetheilt hatte, sein Leibarzt sei vom Perserkönig bestochen, ihn zu vergiften, doch im edlen Vertrauen auf die Zuverlässlichkeit des erprobten Mannes einen Becher Arzenei, den ihm dieser bereitet, ohne Zögern in einem Zuge leerte. Rousseau hörte diese Geschichte von einem Knaben mit großer Gewandtheit erzählen; als er ihn aber fragte, worin denn das Bewunderungswürdige in der Handlungsweise des Fürsten eigentlich liege, stellte sich heraus, dass der Kleine sich unter Tod und Vergiftung überhaupt nichts dachte und nur die Entschlossenheit des Königs bewunderte, der einen Becher übelschmeckender Arzenei in einem Zuge ausgetrunken. Solche Erfahrungen erbittern den Verfasser, und er ruft einmal: „Ich hasse die Bücher, denn die lehren uns nur über Dinge reden, die wir nicht verstehen.„ Anstatt uns dem Ideenkreis der Kinder anzupassen, führt er aus, sind wir bloß darauf bedacht, mit der Vortrefflichkeit unserer Unterrichtsmethode zu prunken, eine Beobachtung, von der er um so fester überzeugt ist, als er sie an sich selbst gemacht haben will; was berechtigt uns, fährt er fort, die Kinder mit so zwecklosen Dingen zu quälen, zu einer Zeit, da Schwimmen, Laufen, Ringen rc. die einzige angemessene Beschäftigung für sie ist, weil sie nur aus dieser zugleich Vergnügungen und Nutzen ziehen; auch mit der Einpflanzung moralischer Ideen übereile man sich nicht. Es ist sinnlos, dem Kinde, dem es an Voraussicht fehlt, vorzureden, es müsse dies oder jenes thun, weil es ihm später zustatten kommen werde; ebenso trage man Bedenken, sich stets auf die Vernunft zu berufen; denn wenn man sie immer im Munde führt, wenn es sich um Widerwärtiges handelt, so wird dem Zögling vermöge der Ideenassociation bald genug auch die Vernunft selbst widerwärtig erscheinen. Die einzige Methode, die sich hier bewährt, ist die, das Kind die nöthigen Erfahrungen nach Thunlichkeit selbst machen zu lassen. Wenn Emil ein Fenster zerbricht, so wird man sich keineswegs beeilen, es wieder herzustellen, damit er die Nützlichkeit der Scheibe einsehen lerne und sich nächstens inacht nehme, sie zu beschädigen, und man wird diesen Weg selbst dann einschlagen, wenn dabei für den Knaben die Gefahr einer Erkältung vorliegt, „denn“, sagt Rousseau drastisch genug, „es ist besser, dass er den Schnupfen bekommt, als dass er ein Narr bleibt.“ Erst von seinem fünfzehnten Jahr ab wird man Emil in der Moral unterrichten; vorher hat man ihm in den Elementarunterricht mit seinen Beziehungen zu den Dingen bekannt gemacht, nun klärt man ihn auch über sein Verhältnis zu den Menschen auf, und die gewaltige Umwandlung, welche sich den natürlichen Gesetzen gemäß gerade jetzt in ihm vollzieht, macht ihn in diesem Augenblick für die Eindrücke der Sympathie und die Lehre der Menschenliebe besonders empfindlich. Noch weit später, nämlich erst in seinem zwanzigsten Jahre, soll man dem Jüngling die Idee einer Gottheit mittheilen. Das Kind, meint Rousseau, ist eines solchen erhabenen Gedankens vollkommen unfähig und vermag sich Gott nur anthropomorphistisch, etwa in der Gestalt eines alten Mannes, oder gar nur nach der Art der Götzendiener unter dem Bilde eines unbelebten Gegenstandes, z. B. der Sonne, vorzustellen. Welcher Art die Religion ist, die er Emil zu geben wünscht, darüber spricht er sich in dem eingeschalteten „Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vicars“ weitläufig aus, einem Bekenntnis, das man heute kaum als gemäßigt, freisinnig bezeichnen würde, das aber zur Zeit, als das Buch erschien, gleichwohl in weiten Kreisen einen Sturm der Entrüstung gegen den Verfasser hervorrief. Nachdem die Ausbildung Emils vollendet ist, hat Rousseau nur noch eine Sorge, nämlich die, eine passende Lebensgefährtin für ihn zu suchen, und dies gibt ihm Veranlassung, im letzten Theile seines Werkes sich über die Grundsätze auszusprechen, die ihm für die Erziehung des weiblichen Geschlechtes maßgebend scheinen. Diese Partie ist entschieden die schwächste des ganzen Buches, da der Verfasser völlig in den Vorurtheilen seiner Zeit befangen, von der Frau stets nur als von einem Wesen redet, das um des Mannes willen da sei, das zum Gehorsam geboren werde, dessen höchster Ehrgeiz darin liegen müsse, dem Manne zu gefallen u. s. w. Dennoch enthält auch dieser Abschnitt eine Fülle interessanter Betrachtungen über die mannigfachsten Gegenstände, von dem Geplauder über Tanz und Toilette bis zum Versuch, einen besonderen Katechismus für junge Mädchen aufzustellen. Im allgemeinen bietet das Werk trotz und zum Theil sogar wegen der Irrthümer, die es enthält, eine ungemein anregende, fesselnde Lectüre, und wenn das aus der vorstehenden Skizze nicht deutlich geworden ist, so liegt die Schuld nicht an Rousseau, sondern an mir.

Friedrich Hitschmann.

friedrich_hitschmann_-_ueber_emil_oder_die_erziehung.txt · Zuletzt geändert: 2024/11/23 10:08 von Daniel Schönfeld

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