Friedrich Hitschmann

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Lembcke, Karl Friedrich Ludwig: Ueber die Principien der Blindenpädagogik. Von Friedrich Hitschmann in Wien. Langensalza, Verlag Hermann Beyer und Söhne. 1895. 20 Pfg. Pädagogisches Magazin. 69. Heft. In: Der Blindenfreund 19 (1899), S. 66-70.

Online-Version: https://archive.org/details/derblindenfreund1920unse/page/n69/mode/2up

Rezension: "Ueber die Principien der Blindenpädagogik"

— Ueber die Principien der Blindenpädagogik. Von Friedrich Hitschmann in Wien. Langensalza, Verlag von Hermann Beyer und Söhne. 1895. 20 Pfg. Pädagogisches Magazin. 69. Heft.

Die vorliegende Schrift, worüber ich bald nach ihrem Erscheinen die Grundgedanken dessen niederschrieb, was ich heute der Oeffentlichkeit übergebe, möchte ein Beitrag zur endlichen und befriedigenden Lösung einer psychologischen Frage sein, deren Wichtigkeit der nicht verkennen wird, der mit dem Verfasser und mir darin übereinstimmt, dass es von hohem Werthe wäre, „wenn das reiche Thatsachenmaterial, welches von den einzelnen Fachmännern in ihrer Praxis gesammelt und durch den befruchtenden Gedankenaustausch auf den Blindenlehrercongressen der Oeffentlichkeit zugänglich gemacht wird, von berufeuer Hand einer sorgfältigen, theoretischen Durcharbeitung unterworfen und so zur Grundlage einer wissenschaftlich systematisirten Blindenpädagogik erhoben würde.“ Lenkt die Schrift so schon durch ihre Tendenz unser Interesse auf sich, so wird auch der andere Umstand uns freundlich anmuthen, dass hier ein Blinder seine Gedanken in einer Weise niederlegt, die von ebensoviel Ernst des Nachdenkens als Gewandtheit des Ausdruckes zeugt. Endlich wird jeder Blindenlehrer die Ausführungen der Schrift gegen die übertriebenen Erwartungen, die man hier und da an gewisse Mittel und Methoden der Veranschaulichung (Modell, Gruppenbild, Methode der auf- und absteigenden Linie) knüpft, mit mir um so mehr der Beachtung werth halten, als hier ein Blinder d. i. in dieser Beziehung ein klassischer Zeuge — aus seiner eigensten Erfahrung spricht. — Aber mit Bedauern bekenne ich, dass hierüber hinaus der Inhalt der Schrift mich enttäuscht hat.

Dieselbe ist zunächst in ihren grundlegenden Voraussetzungen anfechtbar. Indem der Verfasser nämlich ausschliesslich das anthropologische Princip zur Grundlage der Blindenpädagogik erhebt, verfällt er in dieselbe Einseitigkeit, die den von ihm bekämpften Gegnern zum Vorwurf gemacht werden müsste, wenn es zutreffend wäre, was der Verfasser ihnen nachsagt, was mir aber eine Fiction zu sein oder auf Missverständnissen zu beruhen scheint, nämlich, dass sie ausschliesslich das teleologische Princip für die Blindenpädagogik massgebend machen. Dem gegenüber ist festzuhalten, dass, wie die Pädagogik überhaupt, so auch die Blindenpädagogik als System auf der Grundlage dreier harmonisch und organisch in einander greifender Principien auszubauen ist: des teleologischen, anthropologischen und des daraus erwachsenden methodologischen. Darum wäre es ebenso zu verwerfen, wenn ohne Berücksichtigung der eigenartigen Besonderheit der Blinden „die erdrückende Mehrzahl der Blindenpädagogen“ — wie der Verfasser annimmt — als Consequenz des teleologischen Princips einseitig fordern würde: Der Lichtlose werde dem Sehenden so ähnlich als möglich! wie es andererseits verkehrt wäre, mit dem Verfasser diese Forderung unbedingt zu verwerfen und mit Nichtbeachtung des teleologischen Princips in Consequenz des einseitig befolgten anthropologischen zu fordern, dass der Lichtlose „in seiner eigenartigen Besonderheit so vollkommen als möglich ausgebildet werde“. Es würde uns in diesen Anschauungen nur der alte Gegensatz, der wohl hier und da durch einzelne Stimmen, nie aber, soweit ich sehe, als Ansicht der Mehrheit Ausdruck gefunden hat, unausgeglichen entgegentreten, nämlich der Gegensatz, der sich in der Antithese ausdrücken lässt: Bilde den Blinden für die Welt der Blinden! — Mit beiden Sätzen, soweit sie in einem sich gegenseitig ausschliessenden Sinne gemeint sind, ist m. E. nichts anzufangen. Beide Forderungen aber schliessen, richtig verstanden, sich nicht aus, sondern können und müssen auf einem und demselben Bildungswege berücksichtigt und gelöst werden. Dies wird erreicht, wenn man die Aufgabe der Blindenpädagogik dahin fasst: Die Blindenpädagogik hat den Blinden unter Berücksichtigung seiner eigenartigen Besonderheiten, aber auch, indem sie ihn möglichst über diese zu erheben sucht, durch die Weisheit und Kunst einer tüchtigen Lehrerpersönlichkeit dem der allgemeinen Pädagogik vorschwebenden Ideal entgegenzuführen.

Auf solcher principiellen Grundlage würde der Verfasser zunächst, wie er es in seiner Arbeit gethan hat, schwerlich haben unterlassen können, neben der Bildung des Intellects, der er besonders seine Erörterungen widmet, und neben einer die sittliche Seite der Blindenbildung kurz berührenden Ausführung, die dem praktischen Leben zugewandte Seite der Blindenbildung zu besprechen. Ich lege den Finger gerade auf diesen Mangel der Schrift, weil besonders er weiter für die Beurtheilung des Anschauungsprincips verhängnissvoll geworden ist. Der Verfasser kann nämlich, wie er sagt, „dem Pestalozzi’schen Anschauungsprincip“ für die Blindenpädagogik „nur geringe Wichtigkeit beilegen“ und schreibt weiter: „Freilich halte auch ich es für nothwendig, dass die letzte Basis alles Denkens eine concrete sei. Aber diesen Grundstock von concreten Vorstellungen bietet die tägliche Erfahrung ganz von selbst, oder wenigstens ist es ausreichend, die Erweiterung dieser unerlässlichen Grundlagen bloss gelegentlich, besonders wenn es sich um die Anfangsperiode eines Unterrichtsgegenstandes handelt, eintreten zu lassen.“ So würde der Verfasser nicht geurtheilt haben, wenn er erstens durch eine Untersuchung sich klar gemacht hätte, wie viele Gegenstände und Verhältnisse der Aussenwelt ein Blnder kennen und unterscheiden muss, um sich später überhaupt und besonders in seinem Berufe, d. h. in der Regel als Handwerker, selbständig durchs Leben zu schlagen; — wenn er zweitens das Pestalozzi‘sche Anschauungsprincip in seiner Beziehung zum Blindenunterricht voll gewürdigt hätte, insonderheit in seiner Tendenz, Wahrnehmungen nicht bloss durch das Auge, sondern auch durch die anderen Sinne, durch Muskeldruck und Muskelgefühl, ja auch durch die Sprache, durch Thätigkeiten und Handlungen zu vermitteln; — wenn er endlich — was nicht der Fall sein muss — mit mir die Erfahrung gemacht hätte, wie gering doch die Anzahl von brauchbaren Vorstellungen ist, die Blinde auf eigene Anregung und zufällig in ihrer täglichen Erfahrung sammeln. Vielmehr würde er dann mit mir an Stelle der von ihm geforderten gelegentlichen unterrichtlichen Vermittlung die Bedeutung eines planmässigen, durch alle Schuljahre hindurch gehenden Anschauungsunterrichtes, der keineswegs in Tastunterricht aufzugehen hat, zu schätzen wissen.

Zur Werthschätzung des Anschauungsunterrichts in der Blindenbildung führt aber auch ein Blick auf den Werdegang der intellectuellen Bildung des Blinden. Denn zu dem Ziel eines gebildeten Intellects führt den Blinden wie den Sehenden nur ein Weg: der der Aneignung einer möglichst umfangreichen, innerlich geordneten und zusammenhängenden Masse klarer, deutlicher und leicht reproducierbarer Vorstellungen und Begriffe von den Dingen, Thatsachen und Verhältnissen der Welt um uns und in uns. Und, soweit die Welt um uns in Betracht kommt, gibt es hierzu wieder kein anderes Mittel als die sinnliche Anschauung. Dabei ist es vielfach von unteigeordneter Bedeutung, dass den Vorstellungen der Blinden die durch das Auge zu erwerbenden Anschauungsmerkmale fehlen, da auch in den Vorstellungen der Sehenden nicht das Ding an sich gegeben ist. Wohl aber ist von entscheidender Bedeutung, ob eine Vorstellung überhaupt sinnlich vermittelt oder nur „Surrogatvorstellung“ ist. Hieraus ergibt sich dass der Anschauungsunterricht auch für die Blindenbildung grundlegende Bedeutung hat und der Blindenunterricht, soweit dazu die Möglichkeit in den natürlichen Verhältnissen gegeben ist, den Anschauungsunterricht und zwar planmässig zu pflegen hat.

Dass dem Anschauungsunterrichte in der Blindenschule Schranken gezogen sind, ist anzuerkennen. Ausser Licht und Farbe können dem Blinden ja alle die Vorstellungen sinnlich nicht vermittelt werden, deren Vermittelung nur durch das Auge möglich ist. Darum müssen dem Blindenlehrer bei aller Werthschätzung des Anschauungsunterrichtes als Folgerung aus dem Vorhergehenden doch allezeit folgende drei Sätze gegenwärtig sein, die das gemeinsam haben, dass sie der Bildungsfähigkeit des Blinden in intellectueller Beziehung engere Grenzen ziehen als der des Sehenden:

1. Der Blinde kann nie die gleiche Zahl gleichartiger Vorstellungen erwerben wie ein Sehender auf gleicher Stufe geistiger Entwickelung. Darum wird das höchstmögliche Maass intellectueller Entwicklung in der Menschheit nie durch einen Blinden dargestellt werden.

2. Nur soweit als der Vorstellungsinhalt eines Blinden auf frisch-kräftiger sinnlicher Grundlage fundamentirt ist, verbürgt derselbe eine gesunde und gedeihliche Entwicklung seiner Intelligenz.

3. Gleiche geistige Lebendigkeit und Regsamkeit bei Sehenden und Blinden vorausgesetzt, werden beide nur dann dieselbe Höhe intellectueller Entwickelung erreichen, wenn der Blinde über ebensoviel sinnlich ermittelte Vorstellungen verfügt als der Sehende.

So unhaltbar mir die prinzipielle Grundlage der Schrift erscheint, so wenig wollen des Verfassers positive, praktische Vorschläge für mich eine greifbare Gestalt annehmen. Positiv behauptet er: „Erst wenn man ihre (der Blinden) Bestimmung darin erblickt, den Blinden in der Weise zu entwickeln, wie es den ihm eigenthümlichen Anlagen entspricht, ganz unbekümmert darum, ob und in wiefern die Ergebnisse der so begründeten Bildung mit jener des Sehenden übereinstimmen, dann erst wird das Streben der Blindenpädagogen mit so glänzenden Erfolgen gekrönt werden, als es ihre in vielen Fällen wahrhaft aufopfernde Hingabe an die Sache ihrer Schützlinge verdient“.

Aber — so leben denn die Blinden im Wolken-Kuckucksheim? fragen wir — Können, sollen, wollen und dürfen sie eine Welt für sich bilden? — Sind sie nicht im späteren Leben mit ihrem Erwerb auf die Welt der Sehenden und den Verkehr mit diesen angewiesen? — Ist es nicht höchst wichtig, dass sie sich mit den Seheuden voll und ganz verstehen und verständigen können? Und wie soll dies anders erreicht werden, als dass sie mit derselben Sprache dieselben Vorstellungen verbinden? — Der Verfasser scheint weiter die ganze Bildung der Blinden auf das „vortreffliche Gedächtnis der Lichtlosen“ gründen zu wollen. Aber ist dies denn wirklich durchgehends in dem Grade Thatsache, dass es als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Sehenden und Blinden gelten kann? Nach meiner Erfahrung steht es damit zweifelhaft. — Und wie sieht das Lehrsystem aus, wo in der Welt ist es zu finden, dass man es studiren könnte, das sich mehr oder weniger ausschliesslich auf das „vortreffliche Gedächtnis der Lichtlosen“ gründet und nur mit „eigenartigen Surrogatvorstellungen“ des Blinden arbeitet? Ich kann mir zunächst ein solches absolut nicht denken, viel weniger als ein solches, das den erforderlichen Bildungswerth in sich schlösse und den erwarteten Bildungserfolg verbürgte. Der Verfasser scheint selbst zu bezweifeln, dass sich die „Aufgabe — a priori lösen liesse,“ und meint, dass sie wenigstens „den Rahmen der vorliegenden Arheit weitaus überschritte.“ — Aber auf die Lösung dieser Aufgabe kommt es an, und bevor die Möglichkeit derselben nicht nachgewiesen wird, ist der Werth der besprochenen Schrift kaum höher als der eines luftigen Gedankengewebes, bestenfalls als der einer grossen „Surrogatvorstellung“, anzuschlagen und dieselbe kann eben deswegen für die „Systematisirung der Blindenpädagogik“ nur eine negative Bedeutung haben.

Neukloster, im Januar 1899. Lembcke.

karl_friedrich_ludwig_lembcke_-_rezension_ueber_die_principien_der_blindenpaedagogik.txt · Zuletzt geändert: 2020/03/15 21:03 von Daniel Schönfeld

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