Wenn nach dem Gesagten die Traumwelt des Blinden sehr arm an sinnlich anschaulichen Vorstellungen ist, so ist sie dagegen reich an eigentümlichen, abstrakten Phänomenen, welche sich in ihrer Art nicht minder wirksam erweisen, als jene. Ich litt in früheren Jahren viel an Schwindelanfällen, die sich im Schlafe einzustellen pflegten; die Träume aber, welche solchen Anfällen vorhergingen, waren nicht ein einziges Mal derart, daß ich etwa aus beträchtlicher Höhe zu Boden zu stürzen, oder mich, wie es im Tanze geschieht, schnell um mich selbst zu drehen gewähnt hätte. Vielmehr fühlte ich mich dann gewöhnlich von völlig vagen, undefinierbaren Schrecknissen geängstigt, die sich bisweilen sonderbarerweise in bestimmte abstrakte Begriffe verwandelten, ohne daß ich auch nur annähernd zu bestimmen vermöchte, was mir denn so große Furcht vor ihnen einflößte. So erinnere ich mich beispielsweise, daß ich einst als Knabe im Traume eine Addition vornehmen sollte; plötzlich wurde mir klar, daß ich, ohne es selbst zu wissen, multipliciert hatte, und die Vorstellung von der auf diese Weise entstandenen ungeheuren Zahl erfüllte mich mit unaussprechlichem Entsetzen. Ich erwachte, in Angstschweiß gebadet, und rief der Mutter, die hülfreich an mein Lager eilte, zitternd entgegen: ,,Ach Gott, es wächst der Länge und der Breite nach,“ wobei mir unklar der Begriff des Quadrierens vorgeschwebt haben mag. Wenn in Träumen der geschilderten Art die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das von Schreck und Furcht gequälte Ich hingelenkt wird, tritt in anderen das subjektive Moment so sehr zurück, daß man sie wohl als unpersönlich bezeichnen dürfte. Ich habe eine derartige Erscheinung bei Sehenden noch nie gefunden, während sie bei mir etwas Alltägliches ist und, wenngleich nicht ganz so häufig, auch bei anderen Blinden wiederkehrt, weshalb ich hier ausdrücklich auf sie hinweisen muß. Das Charakteristische dieser Träume liegt darin, daß der Träumende selbst gar nicht in den Traumvorgang eingreift und auch in keiner Weise in denselben verwickelt ist, sondern sich ihm gegenüber als unbeteiligter Zuschauer verhält. Die gewöhnliche Form dieser Traumgattung ist die, daß man wähnt, die Dinge würden erzählt oder vorgelesen, oder man wohne der Aufführung eines Theaterstückes bei, ohne daß jedoch auf die Art und Weise der künstlerischen Interpretation irgend welches Gewicht gelegt würde. Ich habe auf diese Weise bereits ganze Novellen, bisweilen auch Dramen oder philosophische Vorlesungen geträumt, konnte mich des Morgens aber immer nur auf ein Chaos verworrener Vorstellungen besinnen. Treuer erweist sich das Gedächtnis da, wo es sich um die Reproduktion stilistisch markanter Wendungen, besonders um Verse, handelt. Die letzteren finden sich in den Träumen der Blinden sehr häufig, ein neuer Beweis für die von mir an anderer Stelle eingehend besprochene Thatsache, daß dem Lichtlosen ein ungemein reges Formgefühl eigentümlich ist. So träumte ich einst, ich glaube, es war kurze Zeit nach der Lektüre der „Geschichte des Don Carlos“ von St. Real, welche Schiller bekanntlich als Quelle für sein Drama benutzte, eine am spanischen Hofe spielende Geschichte voll Kabale und Intriguen, in welcher eine Prinzessin die geheimen Ränke ihrer Schwester aufdeckte und ihr in Beantwortung, ich weiß nicht mehr welcher Frage, zürnend zurief: | Wenn nach dem Gesagten die Traumwelt des Blinden sehr arm an sinnlich anschaulichen Vorstellungen ist, so ist sie dagegen reich an eigentümlichen, abstrakten Phänomenen, welche sich in ihrer Art nicht minder wirksam erweisen, als jene. Ich litt in früheren Jahren viel an Schwindelanfällen, die sich im Schlafe einzustellen pflegten; die Träume aber, welche solchen Anfällen vorhergingen, waren nicht ein einziges Mal derart, daß ich etwa aus beträchtlicher Höhe zu Boden zu stürzen, oder mich, wie es im Tanze geschieht, schnell um mich selbst zu drehen gewähnt hätte. Vielmehr fühlte ich mich dann gewöhnlich von völlig vagen, undefinierbaren Schrecknissen geängstigt, die sich bisweilen sonderbarerweise in bestimmte abstrakte Begriffe verwandelten, ohne daß ich auch nur annähernd zu bestimmen vermöchte, was mir denn so große Furcht vor ihnen einflößte. So erinnere ich mich beispielsweise, daß ich einst als Knabe im Traume eine Addition vornehmen sollte; plötzlich wurde mir klar, daß ich, ohne es selbst zu wissen, multipliciert hatte, und die Vorstellung von der auf diese Weise entstandenen ungeheuren Zahl erfüllte mich mit unaussprechlichem Entsetzen. Ich erwachte, in Angstschweiß gebadet, und rief der Mutter, die hülfreich an mein Lager eilte, zitternd entgegen: ,,Ach Gott, es wächst der Länge und der Breite nach,“ wobei mir unklar der Begriff des Quadrierens vorgeschwebt haben mag. Wenn in Träumen der geschilderten Art die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das von Schreck und Furcht gequälte Ich hingelenkt wird, tritt in anderen das subjektive Moment so sehr zurück, daß man sie wohl als unpersönlich bezeichnen dürfte. Ich habe eine derartige Erscheinung bei Sehenden noch nie gefunden, während sie bei mir etwas Alltägliches ist und, wenngleich nicht ganz so häufig, auch bei anderen Blinden wiederkehrt, weshalb ich hier ausdrücklich auf sie hinweisen muß. Das Charakteristische dieser Träume liegt darin, daß der Träumende selbst gar nicht in den Traumvorgang eingreift und auch in keiner Weise in denselben verwickelt ist, sondern sich ihm gegenüber als unbeteiligter Zuschauer verhält. Die gewöhnliche Form dieser Traumgattung ist die, daß man wähnt, die Dinge würden erzählt oder vorgelesen, oder man wohne der Aufführung eines Theaterstückes bei, ohne daß jedoch auf die Art und Weise der künstlerischen Interpretation irgend welches Gewicht gelegt würde. Ich habe auf diese Weise bereits ganze Novellen, bisweilen auch Dramen oder philosophische Vorlesungen geträumt, konnte mich des Morgens aber immer nur auf ein Chaos verworrener Vorstellungen besinnen. Treuer erweist sich das Gedächtnis da, wo es sich um die Reproduktion stilistisch markanter Wendungen, besonders um Verse, handelt. Die letzteren finden sich in den Träumen der Blinden sehr häufig, ein neuer Beweis für die von mir an anderer Stelle eingehend besprochene Thatsache, daß dem Lichtlosen ein ungemein reges Formgefühl eigentümlich ist. So träumte ich einst, ich glaube, es war kurze Zeit nach der Lektüre der „Geschichte des Don Carlos“ von St. Real, welche Schiller bekanntlich als Quelle für sein Drama benutzte, eine am spanischen Hofe spielende Geschichte voll Kabale und Intriguen, in welcher eine Prinzessin die geheimen Ränke ihrer Schwester aufdeckte und ihr in Beantwortung, ich weiß nicht mehr welcher Frage, zürnend zurief: |
Aber nicht bloß an mir, der ich mich viel mit litterarischen Studien abgebe, sondern auch bei anderen Blinden, die wenig Gelegenheit haben, sich vorlesen zu lassen, habe ich die Thatsache des In-Versen-Träumens zu konstatieren vermocht. Ein blinder junger Mann meiner Bekanntschaft, der als Musiker von Beruf nicht viel mit Versen zu schaffen hat, träumte in einem Zusammenhange, dessen er sich nicht mehr erinnert, die folgenden Zeilen, die sich wie das Fragment eines größeren Gedichtes anhören: | Aber nicht bloß an mir, der ich mich viel mit litterarischen Studien abgebe, sondern auch bei anderen Blinden, die wenig Gelegenheit haben, sich vorlesen zu lassen, habe ich die Thatsache des In-Versen-Träumens zu konstatieren vermocht. Ein blinder junger Mann meiner Bekanntschaft, der als Musiker von Beruf nicht viel mit Versen zu schaffen hat, träumte in einem Zusammenhange, dessen er sich nicht mehr erinnert, die folgenden Zeilen, die sich wie das Fragment eines größeren Gedichtes anhören: |
Bemerkenswert ist, daß der Träumende dabei aus dem Schlafe redend vor sich hinmurmelte: „Zwölf Worte, zwölf Tote, es stimmt.“ Der zweite Teil dieser Äußerung bezog sich wohl auf die später in Vergessenheit geratenen Traumbilder, der erste aber offenbar auf die Worte der citierten Verszeilen, deren Zahl in der That zwölf beträgt. Ich gebe diese immerhin auffällige Thatsache wieder, weil sie vielleicht einen Schluß auf die Art und den Grad der Geistesthätigkeit während des Schlummers gestattet, ohne darauf hier weiter einzugehen. Der Zweck dieser Skizze war ausschließlich der, darauf aufmerksam zu machen, daß zwischen dem Traumleben des Blinden und des Sehenden tiefgreifende Unterschiede obwalten, und an der Hand zuverlässiger Beispiele anzudeuten, worin diese Unterschiede im wesentlichen bestehen. | Bemerkenswert ist, daß der Träumende dabei aus dem Schlafe redend vor sich hinmurmelte: „Zwölf Worte, zwölf Tote, es stimmt.“ Der zweite Teil dieser Äußerung bezog sich wohl auf die später in Vergessenheit geratenen Traumbilder, der erste aber offenbar auf die Worte der citierten Verszeilen, deren Zahl in der That zwölf beträgt. Ich gebe diese immerhin auffällige Thatsache wieder, weil sie vielleicht einen Schluß auf die Art und den Grad der Geistesthätigkeit während des Schlummers gestattet, ohne darauf hier weiter einzugehen. Der Zweck dieser Skizze war ausschließlich der, darauf aufmerksam zu machen, daß zwischen dem Traumleben des Blinden und des Sehenden tiefgreifende Unterschiede obwalten, und an der Hand zuverlässiger Beispiele anzudeuten, worin diese Unterschiede im wesentlichen bestehen. |